12. April

Jeder Apriltag ist eine lebens- und weltgeschichtliche Rarität, weil jeder anders ist – heute trifft mich gleich auf der Schwelle, noch bevor ich mich auf den Weg machen kann, ein Windstoß … trifft mich wie eine riesige eiskalte Faust aus dem Dämmergrau heraus; ich schreite meinen Weg bei ständigem Lavieren ab, der Wind dringt mal von dieser mal von jener Seite auf mich ein, steht mir frontal im Weg oder treibt mich von hinten voran. Die seltene, für mich erstmalige Wahrnehmung besteht darin, dass nun unmerklich Schneefall einsetzt, dies aber so ärmlich, dass mich nur alle vier, fünf Schritte eine Flocke trifft. Es sind winzige gefrorene Flöckchen, die einzeln in der bewegten Luft herumhängen und in einer sehr langsamen Trudelbewegung, dabei im Flug momentweise innehaltend, zu Boden sinken. Ich kürze meinen Rundgang ab, habe mich nicht warm genug angezogen. – Aus verschiedensten Sprachen – vom Polnischen über das Englische bis zum Litauischen – hat der Dichter Joseph Brodsky seit seiner Jugend in großem Umfang Lyrik übersetzt. Um so auffallender bleibt, dass er nur einen einzigen Text aus dem Deutschen ins Russische gebracht hat – Hans Leips populären Songtext ›Lili Marleen‹. Von manchen seiner Freunde und Kollegen weiß man, wie schwer sich Brodsky mit dem Deutschen getan hat. Zu Deutschland und den Deutschen blieb er stets auf Distanz, deutsche Motive begegnen in seinem essayistischen und lyrischen Werk nur ausnahmsweise. Eine solche Ausnahme ist sein großer Aufsatz über Rainer Maria Rilkes Langgedicht ›Orpheus. Eurydike. Hermes‹, das Brodsky nur in englischer Übersetzung zugänglich war und dessen Lektüre ihm gleichwohl zu einem Meisterstück einfühlender Interpretation geriet. Es ist tatsächlich staunenswert, wie hier ohne Zugriff auf den Originaltext ein komplexes sprachkünstlerisches Gebilde erschlossen und neu zum Sprechen gebracht wird. Dass es sich bei der Vorlage um einen Text deutscher Sprache handelt, scheint für Brodsky weniger relevant zu sein als dessen mythologischer Gehalt und die poetische Rede schlechthin, die für ihn »an sich so etwas wie eine Fremdsprache ist – oder deren Übersetzung«; gemeint ist damit eine »übersprachliche Erhabenheit«, wo »die Liebe des Klangs zum Sinn« bestimmend ist und nicht die außerliterarische Bedeutung. Nun ist es aber keineswegs der elitäre Rilke, sondern der volkstümliche Hans Leip, der dem russischen Jungdichter den Zugang zur deutschen Kultur verschafft hat. ›Lili Marleen‹, Brodsky Lieblingslied, steht für die Glitzerwelt des deutschen Films, des deutschen Schlagers, der deutschen – weiblichen – Stars, von denen Zarah Leander den stärksten Eindruck hinterließ, so stark und so nachhaltig, dass sie viel später als moderne Referenzgestalt in die ›Zwanzig Sonette an Mary Stuart‹ einging. In einem autobiografischen Versuch über seine Kindheit und Jugend (›Kriegsbeute‹) hat Joseph Brodsky die Begeisterung zu vergegenwärtigen und zu erklären versucht, in die er durch desolate Hinterlassenschaft des »faschistischen Erzfeinds« nach dem Großen Vaterländischen Krieg versetzt wurde. Allein schon deutsche Marken- und Firmennamen wie »Junkers« oder »Focke-Wulf«, »Krupp« oder »IG Farben« waren für ihn wegen ihres ungewöhnlichen Klangs eine akustische Sensation, und Fundstücke aller Art aus der Okkupationszeit, aber auch Trophäen aus Gedenkstätten und Kriegsmuseen führten dem neugierigen Schüler Dinge vor Augen, die an Qualität und Design alles übertrafen, was die siegreiche Sowjetunion zu bieten hatte – perfekt verfertigte militärische Utensilien wie etwa ein deutsches Marinefernglas (Zeiss!), eine Offiziersmütze mit blitzendem Abzeichen oder ein Kurzwellenradio (Philips!) regten die Fantasie und heimliche Bewunderung für den einstigen Kriegsgegner ebenso nachhaltig an wie »die schwarz lackierten Kotflügel der überlebenden deutschen BMW- und Opel-Limousinen«. Und alles war durchwirkt und getragen von der erotischen Aura »germanischer« Frauen vom Typ der Marlene Dietrich oder Ingrid Bergman, die den pubertierenden Jungen – Brodsky selbst bekennt es – für immer auf das Ideal der platinblonden nordischen Schönheit festgelegt haben. Doch in der Folge verblasste für Brodsky das frühe deutsche Faszinosum in dem Maß, wie er späterhin zu erkennen glaubte, dass die offizielle Sowjetrhetorik durch den Jargon marxistischer Traktate »stark germanisiert« und zutiefst »verdorben« war. Was einst den Zauber des Fremden und Unverständlichen ausgemacht hatte, kehrte nun wieder in Form eines undifferenzierten, hölzern wirkenden Herrschaftsdiskurses, der als präpotente Fremdsprache (Parteichinesisch!) das lebendige Russisch zu lähmen begann. In einem vergessenen, kurz vor seinem Tod in Warschau publizierten Interview hat Brodsky diese massive sprachliche Überfremdung auf zwei hauptsächliche Prämissen zurückgeführt. Zum einen – ganz allgemein – auf die traditionelle, durchweg ambivalente Bewunderung der Russen für den deutschen Ordnungs- und Qualitätssinn, die schon die großen Reformen Peters des Großen und später die enthusiastische Rezeption des Hegelschen Systemdenkens beflügelte; zum andern – speziell – auf die deutschen Rückverbindungen Lenins, der familiäre Rückverbindungen nach Deutschland hatte und für den das Deutsche gewissermaßen die Vatersprache war. »Wenn also Lenin seinen Marx liest, dann liest er das, was ihm ohnehin nahe ist. Er liest etwas Eigenes«, meint Brodsky. »Dazu kommt der russische Minderwertigkeitskomplex. Wir hatten ja nie eine eigene politische Philosophie. Niemand bei uns hat ein ›Kapital‹ verfasst. Das ›Kapital‹ ist deutsch geschrieben. Für Lenin also in seiner eigenen Sprache.« Und diese germanisch imprägnierte Sprache wurde nach der Machtergreifung der Bolschewiki zum Newspeak des Sowjetregimes und zum Jargon der marxistisch-leninistischen Staatsideologie. Dass Joseph Brodsky als innovativer Dichter diese Sprachbegradigung nicht akzeptieren mochte, liegt auf der Hand; dass er aus Protest dagegen nie wieder einen produktiven Zugang zur deutschen Kultur hat finden können, bleibt zu bedauern. – Besuch von Farhad Showghi, der zur Zeit einen Workshop im Arc besucht und also nur drei Fußminuten bis zu meiner Schwelle braucht; er rapportiert das unglaubliche, kaum nachvollziehbare Leben seiner Eltern zwischen Folter und Sex wie auch das seinige zwischen dem Iran und der Tschechoslowakei – alles läuft hier in extremis ab, es ist das Leben pur, es ist das pure Böse, es ist das pure Gegenteil normalen Überlebens. Wir reden bis fünf in der Früh, trinken drei Flaschen leer, verabschieden uns unter funkelndem Himmel. Ich lege mich für eine Stunde hin, finde keinen Schlaf, steh wieder auf und setze mich in den Wald ab. Es ist nass, kalt, rutschig, erneut setzt Schneefall ein, beim Stapfen kommt dennoch ein Gefühl von Wohligkeit auf … ein Gefühl von wohliger Alleinigkeit – kein Mensch weit und breit, als wäre ich der letzte und damit der einzige Überlebende. Doch welche Katastrophe hätte ich diesmal überlebt? – Ja!
aaaaaDoch! Gerne noch ein Bis! Ein
aaaaaBiest wie Diana wird das Überzählige erlegen und
aaaaaaber am Unzähligen scheitert sie
aaaaaauch. Nicht zu unterscheiden das Beliebige vom
aaaaaGeliebten. Amor light nur zu! Und
aaaaanoch ein Bisschen um das süße Lästermaul
aaaaazu amüsieren. Oder eben bittersüß. – Welche Peinlichkeit, Liebe zu machen und sich dabei unversehens bewusst zu werden, dass Millionen andre gleichzeitig ein Gleiches tun; was für eine Stillosigkeit, ein Hotelbett zu beschlafen, in dem man Tausende von Vorschläfern hat. Von daher mein physisches Grauen vor Sportstadien, Versammlungshallen, Großraumbüros, Wartesälen, Kasernen, Badestränden usf., wo sich der Mensch seiner Mehrheit sicher sein kann und … und also nichts mehr zu sagen hat; statt dessen brüllt oder schweigt er wie aus einem Mund. – Die zunehmende Helligkeit da draußen, die zunehmende Frühlingswut, die plötzlichen Hitzewellen haben etwas Endzeitliches … haben für mich etwas Endzeitliches, während weithin Erleichterung, ja, Jubel herrscht über den so früh einkehrenden Sommer.

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