12. Juni

O. I., hierzulande einer der populärsten Partei- und Parlamentspolitiker, ist unerwartet gestorben, ein Jahr jünger als ich – ich hielt ihn für mindestens zehn Jahre älter. Die Schygulla, von meinem Jahrgang, lässt keine Spur mehr von ihrer einstigen wilden Schönheit erkennen, aus ihr ist eine dickliche Oma geworden, jede feminine Aura hat sie verloren; passenderweise spielt sie in ihrem jüngsten Film eine rechtschaffene Mutterrolle, bieder und klug, blass und verwechselbar. Und ich? Hätte ich wenigstens eine Rolle zu spielen! – Wach um fünf Uhr vierundvierzig. Mit überwältigender Frische und mit einem feinen grauen Schleier voller virtueller Farben steigt der Tag auf. Das leichte Wehen der Luft, das noch diffuse richtungslose Licht, die noch verhaltene Buntheit, die von der nächtlichen Kühle sich abhebende Wärme – alles vereint sich zu einer sinnlichen Erfahrung … zur Empfindung integraler, auch mich umgreifender Pracht. Keine Spur von Irritation, keine Traumreste, keine Erinnerungslasten, keine Zukunftsskepsis … keinerlei ungute Gefühle. Ohne gefrühstückt zu haben, mache ich mich auf in den Wald, gehe ostwärts der Sonne entgegen, biege über Croy in den Wald ein, gehe weiter in Richtung Bretonnières, nehme mir vor, die heutige Route bis Premier zu verlängern und von dort über den Südhang nach Romainmôtier abzusteigen. Anderthalb Stunden werde ich dafür bei unangestrengter Gehweise wohl brauchen, da ich aber immer wieder stehen bleibe, mich da und dort ins Moos oder auf einen Baumstumpf setze, um dieser unvergleichlichen, unsagbaren … dieser mit Worten nicht einholbaren … dieser ganz simplen, ganz naturhaften Schönheit für ein paar Augenblicke beim Sein zuzuschauen und … oder ihr beim Scheinen beizuwohnen, verlangsamt sich mein Rundgang und vergeht die gefühlte Zeit schneller. Beim Waldausgang vor Premier … beim Überqueren der abgeblühten Narzissenwiese mit den tausendfach zur Erde geneigten welken Duftblumen kommt plötzlich Appetit auf … realisiere ich plötzlich, dass ich noch nüchtern bin … verspüre ich gleichzeitig ein akutes Hungergefühl und akuten Zuckermangel. Gehe kurz zu Boden, lege mich rücklings unter den inzwischen in wolkenloser Bläue brillierenden Himmel, lasse alles für einen Moment gut sein und merke im nächsten Moment, dass irgendetwas … dass etwas in meiner Mitte nicht stimmt. Das Hungergefühl wird von einem Völlegefühl überlagert, in Magenhöhe spüre ich eine schmerzhafte Verhärtung. Eben war da gerade noch diese Wohligkeit … dieses umgreifende Einverständnis zwischen Körperwelt und Außenwelt. Und jetzt? Etwas Bedrohliches scheint sich in mir zu verklumpen, unklar, was es diesmal ist … was es sein könnte, noch nie hatte ich ein vergleichbares Unbehagen und … aber vielleicht ist das ja doch bloß ein überdrehtes Hungergefühl, das den Mangel als Schmerz fühlbar werden lässt?

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