12. Mai

Unterwegs zur Post fällt mir an der obern Toblerstraße ein Plakat auf, das mit einem einzigen großgeschriebenen Wort für einen Zoobesuch wirbt: »ZOOH!« Eine schlichte, eigentlich banale Zusammenziehung von »Zoo« und »oh!«, die durchaus poetische Qualität hat. Das hybride Wort steht für einen ganzen Satz, ist Empfehlung und Appell zugleich, wirkt zunächst ungewöhnlich und mag auf den ersten Blick befremden, erbringt aber für jedermann, selbst für Kinder, einen spontanen Aha!-Effekt, der – und genau darauf kommt es an – »alles klar« macht. Klar ist ja auch, dass das heutige Sprachdesign der Werbetexter mit den gleichen Verfahren operiert wie die sprachspielerische Dichtung der 1960er Jahre oder heutige Rap Lyrics, doch sie tut’s mit unvergleichlich viel größerer Wirkung. Warum? Weil hinter jedem werbesprachlichen Kalauer eine bestimmte und leicht bestimmbare Absicht, vor allem aber ein reales Objekt der Begierde steht – egal, ob es sich dabei um einen Zoobesuch, einen Offroader, eine Armbanduhr, ein Eigenheim, eine Kreuzfahrt handelt. Derweil das dichterische Wortspiel in aller Regel nichts zu besagen, nichts zu bedeuten, nichts zu bewirken hat, ja, nein, nicht mal als Anspielung ist das Wortspiel in der Dichtung von Interesse. Es sei denn, man interessiere sich für das Spiel als solches und nehme die Wörter als solche wahr – in ihrer sinnlichen Wahrnehmbarkeit, ihrer Assonanz- und klanglichen Assoziationskraft, in ihrer bildhaften Letterngestalt, in ihrer wundersamen Losgelöstheit von all den Bedeutungen, die sie normalerweise (und also auch in der Werbung) zu tragen haben. – Diese Reise habe ich lang, zu lang aufgeschoben. Es geht weit, ungeheuer weit nach Osten. Der Zug ist überfüllt, die Bahnhöfe, an denen er unterwegs stundenlang Halt macht, wimmeln von farbigen Menschen, die Schulter an Schulter, Hüfte an Hüfte um irgendetwas – von meinem Platz aus nicht zu erkennen – um etwas Lebenswichtiges kämpfen. Oder tanzen sie? Der Zug, ständig umwölkt vom würzigen Rauch der Dampflokomotive, arbeitet sich auf kreischenden Gleisen in immer enger und steiler werdenden Windungen bergwärts voran. Sind wir noch im Ural? Schon im Kaukasus? Im lärmigen Bahnhofsgetriebe werde ich von einer wogenden, strahlenden, krakeelenden Schar verschleierter Frauen begrüßt, die mich sofort eng umschließen, angrabschen, anschreien und auf einem üppig verwachsnen Pfad zu Ajgi führen. Es wird ein langer ermüdender Marsch durch urwaldähnliches Gelände, bei jedem zweiten, dritten Schritt schlägt mir ein elastischer Ast, ein Dornengezweig, eine geballte Faust ins Gesicht. Gegen Abend erreichen wir die Stadt, sie besteht aus eng zusammengerückten düstern Lehmbauten, aber Ajgi sei – es klingt wie eine Drohung – noch weit. Ich bewege mich … ich werde inmitten der Frauenkolonne durch die verwinkelten Gassen geschoben, bis wir plötzlich vor der Hütte stehn, einem windigen Gehäus mit drei Wänden und ohne Dach. Ajgi, Greis in Kindsgestalt, hockt im Schneidersitz in einem Plunderhaufen von Kissen, Lumpen, Stofftieren, zerschlissnen Gebetsfahnen. Wie freundlich er mir zuwinkt! Ich weiß ja, er ist längst gestorben, ich weiß sogar, ich hab ihn ganz und gar vergessen. Doch siehe da! Einen richtigen Staatsempfang hat er für mich arrangiert. Auf gewaltigen, blau eingesprühten Elefanten tritt eine Formation daher, bestehend aus Priestern oder Offizieren mit gefiederten Goldhelmen, begleitet von Polizei- und sonstigen Ordnungskräften, angeführt von einem Posaunenchor in genieteter Galauniform, getragen – so kommt es mir vor – vom zustimmenden Gemurmel der Gaffer am Rand der Allee. Gala, die umtriebigste von Ajgis Nebenfrauen, bietet mir einen blutrot bemalten Pfeilbogen (einen von mehreren, die sie eigens gebastelt hat) für einhundertsiebenundzwanzig Euro zum Kauf an, fast beschwörend flüstert sie mir ins Gesicht: Das würde hierzuland für einen deutschen Neuwagen reichen. Ich zögere, noch immer winkt Ajgi freundlich lächelnd aus der Hocke zu mir herüber, ich lehne das Angebot ab, und sofort fallen die unzähligen Klageweiber über mich her, beschimpfen mich, verfluchen mich, schubsen, prügeln mich auf den Heimweg zurück, treiben mich durchs lodernde Dorngebüsch, jagen mich mit vielstimmigen Verwünschungen über die Grenze ins Feindesland … wo ich mit schlechtem Gewissen erwache. – »Ich schreibe ohnehin nur für ein paar wenige Leser …« Den Satz habe ich von so unterschiedlichen Autoren wie Hans Blumenberg, Henri Meschonnic, Botho Strauß, Oskar Pastior gehört. Unterschiedlich? Wohl schon; und doch handelt es sich bei denen, die sich diese stereotype Selbstaussage durchgehen lassen, um erfolgreiche, gar berühmte Zeitgenossen, deren Arbeit stets durch kritische Aufmerksamkeit und darüber hinaus mit hohen Ehrungen honoriert wurde. Die Aussage ist ambivalent, wenn nicht widersprüchlich. Denn sie kann verstanden werden als larmoyante Klage über mangelnde Anerkennung wie auch als elitäre Distanznahme von der Tageskritik und vom breiteren Publikum – das Umstandswort »ohnehin« bestätigt den Zwiespalt. Für jenen exzellenten Autor allerdings, der nicht nur keine adäquate Anerkennung, sondern – womöglich – nicht mal einen Verlag findet, kann der eitle Spruch bloß Hohn und Überheblichkeit bedeuten. – Wetterkapriolen – abrupte atmosphärische Umschichtungen, das ständige gaukelnde Widerspiel von frischen Brisen und lauen Böen, der kurzfristige Wechsel zwischen grellen Lichteinfällen und plötzlichen Verfinsterungen gehören zur Normalität dieser Tage, sorgen für unerwünschte Ablenkung und innere Unruhe. Meinen morgendlichen Rundgang trete ich mit Hut und Mantel unter einem böigen Gewitter an, im Wald dann hellt es zwischen den zittrigen Wipfeln jäh auf, ich sehe, Kopf im Genick, eine blasse Sonne zwischen zwei Wolkengebirgen stehn, und in dem Moment, da ich den Blick wieder zwischen meine Schuhe zum aufgeweichten Weggrund senke, trifft und blendet mich ein Strahl … ein Blitzlicht, das mich umso mehr überrascht, als es von unten kommt. Ich bleibe stehn, seh mich um, seh am Boden ein paar Schritte vor mir ein rundes herbstgebräuntes, von den Rändern her leicht eingerolltes Blatt, in dem sich wie in einem kleinen Schälchen Regenwasser gesammelt hat, das nun für eine blinde Sekunde die ganze Lichtfülle auf sich zu ziehen scheint und … und sie als dichtes Strahlenbündel zurückwirft. Noch nie war mir die Sonnenhaftigkeit meines eigenen Augenlichts so klar. – Im Unterschied zu allen andern Phänomenen vergeht das Wunder in dem Moment, da es eintritt. – Ich bin bereit, alles von Stéphane Mallarmé je Geschriebene – die Gedichte, die Prosa, die Briefe, die Notate zur Mode und zum Theater – großartig zu finden, und ich kann … ich könnte das auch sachlich begründen. Was mich bei Mallarmé freilich übersteigt (weil es so vollkommen untendurch geht), ist seine Wahl zum »Prince des Poëtes« kurz vor seinem Tod. Dichterfürst! Er selbst hat sich um die Ernennung bemüht, er, der Geheimnisvolle, er, der Verächter des Literaturbetriebs und des großen Publikums. Dass er es geschafft hat, der erste Dichter Frankreichs zu werden, ist eine Peinlichkeit, die einzig dadurch relativiert wird, dass er ein weitgehend unverständliches Bewerbungsschreiben eingereicht hat, das nicht weniger hermetisch ist als irgendeines seiner dunklen Gedichte – ohne sich als Dichter zu verraten, ist Mallarmé zum Fürsten geworden! Und vielleicht (ich stelle es mir gern so vor) war ja seine Selbstbewerbung nichts als Ironie und Hohn … vielleicht wussten die Juroren, die ihn auf den Thron erhoben, ganz einfach nicht, was sie taten? – Der knorrige Apfelbaum in meinem Kräutergarten ist durchwachsen von dichten Efeuranken, ein kleines Vogelparadies, ein brüchig gewordenes, aber immer noch zwitscherndes Naturdenkmal. Ich beobachte – eine Zigarettenlänge genügt für das Spektakel – einen Wellensittich, der sich wohl hierher verflogen hat, wie er mit unsichern Hüpfern das Blattwerk erkundet, wie sich plötzlich ein paar Spatzen um ihn scharen, ihn bedrängen, ihn zu jagen beginnen, sehe, wie er mit gespreizten Flügeln und ängstlichem Piepsen im Gezweig herumtaumelt und dabei immer tiefer fällt, immer enger eingekreist, dann angegriffen, schließlich erledigt wird. Noch schweben ein paar flaumige Federchen durchs Laub zu Boden. Der Gejagte liegt rücklings, und solang in ihm irgendetwas noch zuckt, hackt einer der Spatzen hässlich auf seinem Restleben herum. – An den morgendlichen Waldgang schließe ich – es geht gegen Mittag – eine kurze Kehre über den Dorffriedhof an, wo ich hin und wieder Halt mache, zum Fotografieren, zum Lesen; es ist ein unschöner, unwirtlicher, sehr gepflegter Gottesacker, auf dem sich in strengem Raster Asphalt- und Kieswege kreuzen. Es ist fast schon Mittag, im steilen Oktoberlicht haben sich die Schatten an den Fuß der Grabsteine zurückgezogen, räumlich wirkt die Szenerie merkwürdig flach, gleichsam schwebend zwischen der zweiten und dritten Dimension. Beim Gehen fällt mir auf, dass meine Schritte auf dem Kies das gleiche Geräusch erzeugen wie im spröden, von der Sonne gedörrten Laub auf den Asphaltstreifen. Das Zarteste und das Härteste werden eins im Schlurfgeräusch des Passanten. – Heute im Internet ein Aufruf von engagierten Kinogängern (einer rasch schwindenden Minderheit mithin), von denen mit zorniger Bestimmtheit das sofortige »Verbot des Knackgeräuschs beim Klauben und Kauen von Popcorn während des Hauptfilms« gefordert wird; und noch eine heutige Forderung: Die britische Boulevardpresse verlangt, mit Bezugnahme auf angeblich Hunderte von Leserbriefen, den sofortigen Rücktritt des ehemaligen Entwicklungshilfeministers und derzeitigen Fraktionschefs der Tories, Andrew Mitchell, der vorgestern, unterwegs zu einem Treffen mit Premierminister David Cameron, auf dem Bürgersteig an der Downing Street einen wachhabenden, ihm angeblich im Weg stehenden Polizisten laut schreiend als »verdammten Proleten« abgefertigt hat. Heute ist Mitchell von seinem Amt zurückgetreten. Es gibt Proteste, die fruchten, andere verhallen folgenlos. Was gibt den Ausschlag dafür? Der Gegenstand, die Ursache des Protests? Anzahl oder Ansehen der Protestierenden? Das Forum, von dem der Protest ausgeht? Der aktuelle Kontext, innerhalb dessen protestiert wird? Oder die Art und Weise, wie der Protest artikuliert wird? Soeben protestiert übrigens Daniel Cohn-Bendit in einem Interview mit der ›Sonntagszeitung‹ pauschal gegen die Schweiz und die Schweizer, die er durchweg »naiv und schwachsinnig« findet, deren Bankgeheimnis und internationale Steuerpolitik er für kriminell hält und dergleichen mehr. Im Internet finde ich dazu, allein auf der Swisscom-Seite, bereits zweihundertvierundfünfzig Kommentare, die meisten anonym, die meisten auch tatsächlich naiv und schwachsinnig, rechthaberisch und patriotisch. Ein rhetorisch wie intellektuell so tief angesetzter Einzelprotest wird naturgemäß nichts anderes bewirken als massenhafte unreflektierte Widerrede auf Biertischniveau und außerdem, ebenso gravierend, spontane Zurückweisung derer, die darüber nachdenken müssten und dafür auch kompetent wären. Es bleibt bei geballten Fäusten, zusammengebissenen Zähnen und analphabetischen Pöbeleien, die sich innerhalb von Stunden zu einem »Schittschtorm« vereinen, der kein vernünftiges Argument mehr aufkommen lässt, weder pro noch contra. – Geräusche gibt’s viele, vom Lärm und vom Schweigen nur eins. – In Moskau sind laut MAPS seit der demokratischen Wende von 1991 mehr historische Gebäude zerstört worden als in der gesamten Stalinzeit; es gibt spezialisierte Bauunternehmer, die im Auftrag von Investoren, Immobilienhändlern, Politikern denkmalgeschützte Bauten niederreißen, die Fassaden in vergrößertem Maßstab nachbauen und dahinter moderne Lofts einrichten. Der legendäre Kulissenbauer Potjomkin lässt aus der verblassten Geschichte herübergrüßen – er hat einst Hunderte von Bretterwänden mit hübschen aufgemalten Bauernhütten in die Landschaft stellen lassen, damit Katharina die Große einer hochrangigen Delegation ausländischer Diplomaten und Regenten Russlands blühende Landwirtschaft vorzeigen konnte. – Komischer Gedanke, verzweifelte Frage: Wie helfe ich meiner Müdigkeit auf die Beine!? – Alle Gefühle, denke ich manchmal, sind Selbstgefühle. Wer trauert, betrauert sich selbst; wer Mitleid hat, bemitleidet sich selbst; wer Wut zeigt, wütet gegen sich selbst; wer pflegt, pflegt sich selbst; wer hilft, hilft sich selbst; wer flucht, verflucht sich selbst; wer feiert, feiert sich selbst – sind also Trauer, Mitleid, Wut usf. lauter Selbstbekenntnisse? Selbsttäuschungen? – Tinte und Druckerschwärze machten während Jahrhunderten die Materialität der Schrift aus und haben der Textproduktion den ambivalenten Ruf einer »Schwarzkunst« eingebracht. Als »Schwarzkünstler« galten dementsprechend die Schriftgießer, Setzer, Kompositeure, Drucker. Doch auch bei elektronischer Textverarbeitung erscheinen die immateriellen Schriftzeichen in aller Regel schwarz auf weißem Grund. »Literatur« in weitestem Verständnis bleibt somit, als Textgestalt, aufs Engste mit der Farbe Schwarz verbunden. Dies gilt freilich genauso auf der Bedeutungsebene. Denn das Wort »schwarz« steht keineswegs nur für die Farbe Schwarz, es bezeichnet konventionellerweise auch so unterschiedliche Phänomene wie Trauer, Vergessen, Schatten, Abgrund, Nacht, Anarchie, Angst. Metaphorisch kann demnach das Wort »schwarz« zur »Schwarzmalerei« werden, dies im Unterschied zur tatsächlichen Schwarzmalerei eines Frans Hals oder Edouard Manet, bei der die schwarzen Farbflecken und -flächen zwar dominanten, aber doch integralen Anteil an der bildlichen Darstellung (eines Wamses, eines Zylinders, eines Lederschuhs) haben, ohne darüber hinaus etwas Metaphysisches bedeuten zu sollen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00