13. Juli

Im Nachbarhaus wird nach monatelangen Renovationsarbeiten das Gerüst abgebaut. Maurer, Zimmerleute, Dachdecker hantieren, angetan mit Kapuzenjacken, im strömenden Regen, brüllen einander Befehle und Fragen zu, werfen große Metallteile aus dem dritten, dem zweiten Stock auf den Gehsteig hinunter, wo sie von Hilfsarbeitern oder Lehrlingen eingesammelt, dann mit einem rasselnden Motorkran auf einen LKW verladen werden. Was insgesamt zwei Tage, also zweimal siebeneinhalb Stunden dauert. Dazu gibt es aus mehreren Kofferradios, die in den Dachrinnen aufgestellt sind, lautstarke Beschallung mit sentimentaler Schlagermusik und serbischen Werbesprüchen. Alles andere … jedes andere Interesse oder Bedürfnis muss hinter dieser ganz normalen Störaktion zurückstehen. Umgekehrt ist es kaum vorstellbar, dass jemand, der dringend Ruhe braucht (ein Musiker beim Üben, ein Schauspieler beim Memorieren, ein Literat beim Schreiben, ein Patient nach dem Infarkt oder nach der Operation usf.), auch nur für kurze Zeit auf Lärmfreiheit bestehen könnte, selbst dann, wenn es tatsächlich um Leben und Tod ginge. Lärm gehört heute, auch in seinen lästigsten Ausprägungen, zur alltagsweltlichen Normalität, Stille gilt als luxuriöse Ausnahmesituation, auf der längst niemand mehr zu beharren wagt. – Aus dem jüngsten Antiquariatsangebot von Peter Petrej habe ich mir einen Privatdruck bestellt, der auf 218 Textseiten A4 und vierundsiebzig farbigen Abbildungen Vladimir Nabokovs Insektenwelt dokumentiert. D. E . Zimmer, der findige Herausgeber, hat tatsächlich alle Schmetterlinge, Käfer, Motten und sonstige Kerbtiere zusammengesucht, die in Nabokovs Werk vorkommen – eine detektivische Kärrnerarbeit ohne erkennbaren Nutzen, die aber gerade deshalb … gerade wegen ihrer Nutzlosigkeit so etwas wie einen poetischen Sinn gewinnt. Ich lese die endlosen Namenslisten und Objektbeschreibungen wie ein sujetfreies Poem, das sich aufbaut aus der Reihung Hunderter von lateinischen Fachbegriffen, Art- und Gattungsnamen. All diese Namen und Begriffe bezeichnen mit wissenschaftlicher Eindeutigkeit bestimmte Objekte und deren Eigenschaften, bleiben jedoch für Laien wie mich bloße Lautgebilde, da mir die genannten Signifikate weitgehend unbekannt sind. Zu den Nymphalidae (englisch nymphalids), einer Schmetterlingsgattung mit ungefähr viertausend Arten, werden Bezeichnungen aufgezählt wie »Admiral«, »Anglewing«, »Checkerspot«, »Crescentspot«, »Fritillary«, »Leafwing«, »Longwing«, »Painted Lady«, »Tortoiseshell« usf., Wörter also, die klanglich und metaphorisch gleichermaßen von Interesse sind – abgesehen davon, dass Nabokov auch seinen selbstgeschaffenen und weltweit bekannt gewordenen Schmetterling, Lolita, den Nymphaliden zugeordnet hat. Im Deutschen firmieren die Nymphaliden in aller Regel als Falter (»Eckenfalter«, »Fleckenfalter«, »Scheckenfalter«, »Schillerfalter«, »Zackenfalter« usf.), es gibt sie aber auch als »Füchse« oder gar als »Landkärtchen«. Zu überlegen wäre, ob und was derartige Listen wie auch andere, vergleichbare Aufzählungen mit Poesie zu schaffen haben; ob sie als Vorformen … als Strukturmodelle des Gedichts gelten können? Die Tatsache, dass im Gedicht das Wort oftmals die Funktion und Wirkungsweise eines Namens übernimmt, scheint dafür ebenso zu sprechen wie die Schichtung des Gedichts in kurzzeilige Verse. – Wieder eine Nacht mit fast zwölf Stunden Schlaf, dazu endlose Träume, und was selten ist bei mir: Träume mit bekannten Protagonisten, diesmal Martin Walser und Oskar Negt, mit denen ich seit Jahren nichts zu tun habe und die auch in meinem Denken und Erinnern keine Rolle spielen. Darüber steht der heutige … der gestrige Vollmond, absolut blank wie ein Silberling, keine Spur von Flecken und Schatten, die sich zu einem »Mann« zusammenfügen könnten, spontan aber die Erinnerung an eine frühe Leseerfahrung … an meine erste bewusste Wahrnehmung einer poetischen Metapher. Ich war damals fünfzehn, sechzehn Jahre alt. Bei meinem damaligen Lieblingsdichter Paul Zech stieß ich auf den Vergleich … auf die Gleichsetzung des Vollmonds mit einer »roten Zote«. Kühnes Bild! Hat mich ungemein beeindruckt, hat mich die Frage stellen lassen, weshalb in der Poesie ein völlig verfehltes Bild gleichwohl seine Richtigkeit haben kann. Eher als auf den Mond ließe sich die »rote Zote« auf die Sonne beziehen, die ja sehr viel häufiger eine rote Färbung annimmt und dabei durchaus irgendwie »zotig« aussehen kann; abgesehen davon, passt die »Zote« sowohl lautlich wie auch grammatikalisch (weiblich) weit besser zur Sonne als zum Mond. Der Mond wird gemeinhin mit Reinheit, Kühle, Weiße assoziiert, was zu Zechs »Zote« in klarem Widerspruch steht. Doch damals begriff ich zum ersten Mal, dass es in der Poesie nicht vorrangig auf die Richtigkeit der Repräsentation ankommt und dass gerade die starke, die überhöhte Metapher sich von ihrem Gegenstand abheben, ihn vielleicht gar dementieren muss, um sich gewissermaßen selbsttätig in Szene zu setzen. Die »rote Zote« erweist sich allein deshalb als ein starkes Stück, weil sie in Bezug auf den Mond so offensichtlich unpassend ist; sie behauptet sich in ihrer poetischen Eigenständigkeit allein durch ihre Sprachlichkeit … durch die Klanglichkeit der beiden zweisilbigen Wörter, deren bedeutungsmäßige Unvereinbarkeit begradigt wird durch die lautliche Übereinstimmung.

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