13. Juni

Quälende … selbstquälerische Redaktionsarbeit an Potocki, der Stoff, überfließend, läuft mir nach allen Seiten davon, die Sprache selbst drängt mich in die Schreibbewegung, ich stelle fest, dass rhythmische oder klangliche Vorgaben den Prozess stärker beeinflussen als der zu absolvierende Plot. Oft entsteht bei mir der Eindruck, als komponierte ich diesen Roman wie ein musikalisches Werk, und dabei kommt es naturgemäß zu Kollisionen … zu wechselseitigen Durchdringungen zwischen der Stil- und Bedeutungsebene des Texts. Gut so. Schwer zu schaffen, kaum durchzuhalten. – Klaus Merz mit Friedrich Hölderlin, Thomas Hürlimann mit Thomas Mann, Walter Kappacher mit Georg Büchner, Monika Rinck mit Ernst Meister – Preise, wem Preise gebühren! Doch ein wenig sollte doch auch an die Namenspatrone gedacht werden. – Peter Widmer macht mich auf eine Urszene des Lesens aufmerksam; es geht dabei um den Entstehungsmythos des Korans. Der Engel Gabriel hält dem analphabetischen Propheten Mohammed ein beschriebenes Tuch vors Gesicht und fordert ihn zum Lesen auf; aus der Lektüre ergibt sich die heilige Schrift – das Geschriebene stimmt mit dem Gelesenen überein. Wie aber gelingt dem Analphabeten die Lektüre, die Entzifferung des Prätexts? Mohammed soll den Prätext des Korans bereits zuvor »in seinem Herzen« aufgezeichnet gehabt haben, und so hätte er ihn gewissermaßen auf den ihm vorgehaltenen Text projizieren können. Möglich wäre auch (möglich?), dass es sich bei Gabriels Text um eine hieroglyphische Schriftfassung gehandelt hat, die auch von einem Analphabeten gelesen werden kann. Anderseits denke ich, dass ein Analphabet sehr wohl auch Alphabetschrift zu lesen vermag, nur liest er dabei nicht, was hinter den Wörtern, den Sätzen steht, er liest – er sieht –, was dasteht, erkennt die skripturalen Zeichen in ihrer Ikonizität und wird sich dabei zumindest etwas Unbestimmtes, Ungefähres vorstellen können, auch ohne verstanden zu haben, worum es der Bedeutung nach geht. Statt die Bedeutung des Texts zu erfassen, bildet er dazu einen Sinn, einen Eigensinn gewissermaßen, der die Vorlage transzendiert. Die ornamentalen Schriften des arabisch-iranischen Raums geben zu solcher Sinnbildung naturgemäß mehr Anlass, als die viel abstrakteren graecolateinischen Alphabetschriften. – In diesen Tagen stieß ich im Internet (Museum Helveticum) auf eine philologische Studie, die auf ein Akronym im Eingangsbereich der Aeneis verweist, aus dem sich die Signatur des Vergilius Maro ergibt. Das Akronym ist über vier Zeilen verstreut, impliziert sind aber bloß 6 Buchstaben. Die Saussure’sche Frage dazu: Hat der Autor sich volens in den Text eingeschrieben oder ergibt sich das »bedeutsame« Akronym nolens, also rein zufällig aufgrund statistischer Rekurrenz jener 6 Buchstaben? Dazu ein triviales zweites Beispiel (womöglich sind ja alle Beispiele in diesem Zusammenhang trivial?): Es gibt eine kalifornische Gesetzesvorlage von 2009, deren 7 erste Zeilen mit den Buchstaben f-u-ck-y-o-u beginnen. Dieses Akronym ließe sich wohl leicht arrangieren, ist in diesem Fall aber sicherlich als Zufallskonstellation zu werten. Deshalb jedoch nicht minder ernst zu nehmen! Ferdinand de Saussures (und meine) ungelöste Frage bleibt eben die – ob und inwieweit Texte bei der Entstehung einem innersprachlichen Eigentrieb folgen und wie dieser Eigentrieb (nolens) sich mit einer auktorialen Absicht (volens) verbinden kann. In seiner Künstlernovelle ›Jonas ou l’artiste au travail‹ berichtet Albert Camus von einem Maler, der mitten in einer schweren Schaffenskrise stirbt und der lediglich ein weißes, das heißt ein ungemaltes Bild in seinem Atelier hinterlässt, auf dem in winzigen Lettern das Wort »solitaire« zu lesen ist, allerdings so undeutlich geschrieben, dass es auch »solidaire« heißen könnte. Gewollte Undeutlichkeit (zwecks Sinnerweiterung)? Oder doch nur Fahrigkeit des verzweifelten Schreibers, der nicht mehr malen kann? –Ich erinnere mich gut … bin alt genug, um mich an jene Zeiten zu erinnern, als die Maschinen noch ruckelnd und stotternd menschliches Handwerk nachahmten – die ersten Autowaschanlagen! die ersten Geschirrspüler! die ersten Gemüsemixer! die ersten Trauben- und Kartoffelerntemaschinen! die ersten Getreidebündelmaschinen! die ersten Strickmaschinen! die ersten Rasensprinkler! aber auch die letzten Monotypemaschinen, tonnenschwere Geräte, dreimal so groß wie ein Schlafzimmerschrank, bestehend aus dichtem Gestänge, aus gewundenen Schienen, auf denen die Bleibuchstaben einzeln zusammengeführt, über eine Tastatur zu Wörtern gefügt und dann zu Textblöcken verschmolzen wurden.

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