14. August

Über Nacht noch einmal eine Abkühlung um gut zehn Grad, Licht und Luft wie sonst erst im Spätherbst; starker Schlaf, stark geträumt: Bin mit Simon Morris auf Ferienfahrt. In einem krähenblauen Citroėn 2 CV. Mit angehängtem Wohnwagen durchqueren wir ein weitläufiges Industriegelände. Im Fond des Autos sitzen zwei weitere Personen, deren Gesicht und Gestalt so verwischt sind, dass ich sie nicht erkennen kann. Ich bin als Beifahrer mit von der Partie, habe aber keine Ahnung, wohin die Reise führen und wie lang sie dauern soll. Stunde um Stunde fahren wir schweigend durch eine endlose, dicht mit Lagerhallen, Fabriken, Motels und Bürogebäuden besetzte Ebene unter gleichmäßig grauem, völlig wolkenlosem Himmel. Unversehens zweigt S. M. von der Hauptstraße ab und kurvt nun mit dem sperrigen Gefährt durch eine ruinöse Industrielandschaft, die dominiert ist von bröckelnden Hochkaminen aus braunrotem Backstein. Wir biegen in einen mit schütterem Gras durchwachsenen Hinterhof ein, wo für uns ein Standplatz reserviert sein soll. Der einzige leere Standplatz ist aber für uns zu klein, S. M. stellt das Auto mit dem Anhänger quer in den Hof. Wir betreten zu viert – wir zwei und die beiden Unbekannten – das mehrstöckige, halb verfallene Gebäude, das vielleicht ein ehemaliges Schulhaus ist, vielleicht auch ein Verwaltungsgebäude, schlecht beleuchtet, mit endlosen Korridoren, breiten Treppen und Galerien, mit schadhaften Betonträgern und Geländern. In einem der oberen Stockwerke finden wir, dem lauter werdenden Stimmengewirr folgend, eine verrauchte Kneipe, wo wir offenbar erwartet werden und auch gleich etwas zu essen bekommen. Niemand von den hier Anwesenden ist mir bekannt, aber alle scheinen S. M. zu kennen, und ich sehe nun endlich, dass es sich bei unsern beiden Begleitern um Krys Berlin und Urs Planck handelt. Doch Urs scheint lange vor uns angekommen zu sein, er hat eine Performance einstudiert, die Anwesenden setzen sich im Halbkreis um ihn herum. Planck beginnt über les êtres humains zu schwafeln, er behauptet, dass es den Menschen als solchen nicht gibt, es gebe nur Männer und Frauen und diese seien eben bloß Geschlechtswesen, niemals ganze Menschen oder Menschen schlechterdings. Dann zeigt er auf zwei hinter ihm stehende schwarze Kühlschränke, er öffnet den einen, dann den andern – in beiden Kühlschränken ist er selber zu sehen, reglos kauernd in der Pose eines Fötus, genau so gekleidet wie in Wirklichkeit, ich frage mich, ob es lebensgroße Puppen sind oder eingefrorene Klone. Planck steht davor und kichert unentwegt. Erst bei genauerem Hinsehen bemerke ich, dass die beiden Puppen ihr Geschlecht in den Händen halten, bei der einen ist es ein riesiger schlaffer Penis, bei der andern eine klaffende Vulva mit wildem Haar drum herum. S. M. drängt plötzlich zum Aufbruch. Wir tasten uns durch die dunklen Flure zum Ausgang, verirren uns dabei mehrfach, gelangen aber schließlich in den Hinterhof und finden unser Fahrzeug ausgeraubt und schwer beschädigt vor. Der Anhänger ist ausgebrannt, das Heck des Autos abgerissen, alle Geräte ausgebaut, alle Dokumente gestohlen. Ich hatte meine Brieftasche und auch mein Portemonnaie im Handschuhfach eingeschlossen, aber auch dieses ist geknackt und ausgeräumt worden. Irgendwie gelingt es uns, das kleine Auto wieder einigermaßen fahrtüchtig zu machen. Mit offenem Heck und nur auf drei Rädern geht die Reise weiter. Wir müssen nun dringend unsere Kreditkarten sperren lassen, neue Identitätspapiere besorgen usf. Alles ist in der Schwebe, wir fahren und fahren und wissen nicht, ob die Richtung stimmt, wir wissen nicht einmal, wo wir uns befinden und ob wir jemals dort ankommen werden, wohin wir eigentlich nicht wollen. – Krys ruft aus Rzeszów an; ich erzähle ihr den Traum von heute Nacht, sie kann daran nichts Interessantes finden und fragt mich indigniert, ob ich denn nun sicher sei, dass sie und nicht doch eine vom Traumgeschehen generierte Kunstfigur im Fond des Wagens gesessen habe und … aber warum denn mit dem alten Planck?

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