14. Dezember

Wach bis vier Uhr früh in merkwürdiger Befindlichkeit – Unrast und Wohligkeit zugleich; schließlich dann aber eingeschlafen über einem der vielen beim Bett gestapelten Bücher. Aufgestanden um acht. Frühstück mit Alpenkräutertee aus dem Bündnerland und den Nachrichten von gestern in der heutigen NZZ. In einem Beitrag über das ›Auf und Ab in der Vogelwelt‹ lese ich: »Kommt dem Bienenfresser der Klimawandel zugute, bereitet er dem Alpenschneehuhn Probleme. Steigen die Temperaturen, muss das Schneehuhn, das optimal an die Kälte angepasst ist, die Flucht nach oben antreten. Doch was – wenn es dann einmal ganz oben angekommen ist?« – Keine noch so fixe Idee hält sich länger als die Tränenform des Alls. – Triumph der Quantität. Alles und noch viel mehr – so lautet heute die konsensfähige die Devise, die früher … viel früher auch schon mal meine private Lebensdevise war. Doch alles ist immer schon übergenug, ist nie nicht zu viel. Zu viel und zu groß ist auch der Mangel, zu viel gibt’s auch vom Mängelwesen Mensch. Das Mängelwesen Mensch braucht und sucht Erlösung bei einem ganz andern Wesen, das Gott ist. »Erlöse uns … erlöse uns von dem Bösen.« Usf. Sollte aber nicht eher Gott vom Menschen erlöst werden? Kein Mensch – nirgends? Kein Mensch – überall! Der Allmächtige wird als freies Wesen gedacht, doch Freiheit ist nur ohne den Menschen zu haben. Haben? Was ein Gott sein will, das hat nicht – das ist. – Nochmals, kurz vor Einbruch der Dämmerung, für eine Stunde im Wald. Die Schneedecke hält, die Kälte klirrt, die Sonne steht tief zwischen den weiß angepuderten Stämmen und bringt sie da und dort zum Glitzern. Wenn der Weg zwischendurch eine Lichtung quert und die Sonne hereinscheint, kann ich durch die Winterkleidung eine Wärme spüren. Aus den hohen vereisten Wipfeln fallen hin und wieder ein paar noch nicht ganz aufgeschmolzene Tropfen und zerspringen, leis knackend, im Flug. – Die Möglichkeit gilt gegenüber der Wirklichkeit als ein zweitrangiges Phänomen – ihr Defizit (das zugleich ihre Virtualität ausmacht) ist darin begründet, dass sie bloß als etwas Umzusetzendes, etwas zu Realisierendes wahrgenommen wird, und nicht als ein eigenständiger Status des Vorhandenseins. Doch weshalb sollte die Möglichkeit als solche, unabhängig von ihrer Realisierbarkeit, nicht als eine latente Erscheinungsform des Wirklichen gelten? Das Beispiel der bildnerischen oder literarischen Fiktion macht doch deutlich, dass in der Dimension des Möglichen selbst dann, wenn sie »fantastisch« oder »magisch« oder »surrealistisch« überzogen und verzerrt ist, eine souveräne Welt mit eigenem Realitätsstatus entstehen und überdauern kann. In diesem Verständnis wären ›Die Göttliche Komödie‹, ›Das Dekameron‹, ›König Lear‹, ›Don Quijote‹ oder Fjodor Dostojewskijs ›Idiot‹ einem fiktionalen Realismus zuzuordnen, der seinen eigenen Prämissen und Gesetzen gehorcht und dessen Hervorbringungen nicht weniger »wirklich« sind als die sogenannte Wirklichkeit. Gestünde man der künstlerischen Fiktion einen eigenen und souveränen Realitätsstatus zu, so wäre dadurch die traditionelle realistische Widerspiegelung der außerkünstlerischen Welt im künstlerischen Werk definitiv als »Täuschungsgeschäft« ausgewiesen. – Meine allererste Theatererfahrung – sie geht auf mein zehntes Altersjahr zurück – ist zum Schockerlebnis geworden. Die Großeltern hatten mich zu einer Laienaufführung ins Waldhaus Lange Erlen mitgenommen. Gespielt wurde eine Bühnenfassung von Anton Tschechows ›Nutzen des Tabaks‹; als Kulisse diente ein spießiges Interieur mit Hirschgeweih und Jagdgewehr an der Wand und … da hocken nun ein paar Leute um einen Tisch herum, quasseln durcheinander, schreien sich an, biegen sich vor Lachen – ich verstehe kaum ein Wort. Nutzen? Tabak? Doch fasziniert beobachte ich auf der Bühne eine alte Frau, die offensichtlich von einer jungen Frau gespielt wird, ihr Gesicht ist grau geschminkt, das Haar grau gepudert, sie trägt eine graue Schürze und graue Strickstrümpfe über auffallend schön geformten Beinen. In der Aufregung stößt die graue Tante mit dem Ellenbogen eine Teetasse vom Tisch, die Tasse fällt samt Untertasse zu Boden (keine Überraschung) und zerspringt (sehr wohl eine Überraschung) in tausend Splitter und Scherben. Der Schock bestand für mich darin, dass die Tasse eine richtige Tasse und die Untertasse eine richtige Untertasse aus Porzellan war, und nicht bloß, wie ich es im Theater erwartet hatte, eine Attrappe aus Plastik. Da! Das Geschirr liegt tatsächlich kaputt auf dem Küchenboden, von dem ich gedacht hatte, er sei eine richtige Theaterbühne, auf der ausschließlich künstliche, also nachgemachte Dinge (als Requisiten) und geschminkte und kostümierte Leute (als Schauspieler) zu sehen sein würden. Mir war diese Aufführung viel zu realistisch, ich könnte auch sagen, sie war mir nicht künstlich genug, war nicht weit genug von dem abgehoben, was ich als meine Alltagswelt kannte. Die Alltagswelt wurde hier nur einfach nachgebaut, die Alltagssprache nachgeahmt, die Requisiten waren Gegenstände des täglichen Gebrauchs, die Darsteller waren – wozu bloß? – verkleidet als Menschen wie du und ich. Ich erinnere mich, ich war von dem allzu realistischen Spektakel schwer enttäuscht. Ich hatte mir die Bühne, das Theater als eine eigene, von der Wirklichkeit abgehobene Welt vorgestellt, hatte erwartet, dass »die Kunst« mit eigenen, eben »künstlichen« Mitteln das gewöhnliche Leben überbieten würde. Der Grund meiner Enttäuschung bestand ganz einfach darin, dass ich vom Theater auf unterhaltsame, nicht sofort durchschaubare Weise getäuscht werden wollte, so wie ich es zuvor im Marionetten- und Kasperletheater erlebt hatte. Statt dessen hielt man mir einen Spiegel vor, in dem alles so aussah und alle sich so verhielten wie in Wirklichkeit. Dass aber auch dieses »wie« auf einer Täuschung beruht beziehungsweise eine solche voraussetzt, ist mir damals – natürlich – entgangen. – Wo eigentlich ist Krys, wenn sie bei mir ist? Wenn sie mir so nah ist wie in diesen Tagen … vertraut bis zum Exzess der Gewöhnung und des alltäglichen Entsetzens! Die Antwort auf die Frage »wo?« ist auf unsrer gemeinsamen Route als namenloser Grenzpunkt eingetragen. »Schön ist die Angst fast eine Insel«, meint Krys: »Und auf der Stirnseite des Schmerzes weiter nichts.« Aber wo genau? Für drei Tage in Venedig. So regelmäßig wie in unsern Pionierzeiten kommen wir nicht mehr hierher, aber doch alle zwei, drei Jahre, und immer Mitte Dezember, in der Ruhe vorm Sturm der Weihnachtstouristen. Zwei, drei Tage bei üblicherweise desolatem Wetter, oft mit Hochwasser. Die karnevaleske Buntheit der Stadt zieht sich zu dieser Jahreszeit in die Grisaille der Hausmauern und Granitplatten zurück, bleibt reduziert auf wenige, kaum sich abhebende Schlieren und Flecken von Zinnober, Azur oder Pissgelb. Ein kleines bescheidenes Fest für den schweifenden Blick. Hier bleibt viel Zeit für gemeinsames Gehen, Erinnern, Schweigen. Eigentlich haben wir uns ja alles schon mehrfach angeschaut, die Sehenswürdigkeiten können wir uns sparen, sensationell kann nur Zufälliges, Beiläufiges, Hinfälliges sein. Zum Beispiel dieses Glasauge da – ich hab’s heute im Hinterhof von San Zaccaria zwischen zwei Bodenplatten entdeckt und als Fundstück mitlaufen lassen im jähen Gedanken … mit der seltsamen, doch spontan sich einstellenden Idee, es auf Joseph Brodskys Grab niederzulegen. Warum? Wozu? Zur Toteninsel San Michele wollen wir auch diesmal übersetzen, um den Friedhof zu besuchen. Gesagt, getan. Bei schneidender Kälte und unangenehm stürmischem Seegang hält das Vaporetto, schräg gegen die Strömung gestemmt, in weitem Bogen auf die Insel zu. Der Friedhof ist so gut wie menschenleer, da und dort fegt ein Gärtner mit langsamen Schwenks das letzte Herbstlaub vor sich her, verliert es aber rasch wieder an den heftigen Bodenwind. Brodskys Grabstätte liegt am Rand der Insel in einem ziemlich verwahrlosten separaten Teil des Friedhofs. Besucher aus aller Welt legen hier als Totengaben unterschiedlichste Mitbringsel ab, meist Bleistifte und Kugelschreiber, künstliche Blumen, Steine, Fotos, kleine Amulette, Tannenreisig, auch Zettel mit Namen oder Verszeilen. Ich werfe mein Glasauge zu all den andern Dingen aufs Grab, die grüne Pupille starrt senkrecht nach oben. Krys hat in dem hier angehäuften Sammelsurium die vergoldete Kappe eines Füllfederhalters der Marke Parker entdeckt – sie hebt das röhrchenförmige Teil an die Lippen und produziert damit eine Reihe langgezogener Pfeiftöne. Als wir gegen sechs Uhr abends in die Stadt zurückkehren, ist es bereits völlig dunkel. Um die Laternen am Kai weht in leichten schwarzen Strähnen der erste Schnee. – Bei Schneefall kehren solche Träume immer wieder … Träume mit gewaltigen labyrinthartigen Architekturen; düstere, mit alten Gegenständen überfüllte Innenräume; funktionale Betonbauten, eng ineinander verschachtelt, mit Treppen, Korridoren, Aufzügen als hauptsächlichen Elementen; dazu – heute – Vaters Weihnachtsgeschenk, ein Businessanzug, fein gestreift in Lila und Gelb, der Stoff leicht glänzend, die Fasson eng auf den Körper … auf einen männlichen Idealkörper zugeschnitten; ein Geschenk ohne Begleitbrief und … aber mit tieferer Bedeutung. Ich versteh’s nicht. Vater lächelt, er hat mich ertappt! Wobei? Mit beiden Händen halte ich mich im Lift an einer der herabbaumelnden Halteschlaufen fest, bin zwischen vielen Leuten eingezwängt, die alle, Männer wie Frauen, den gleichen … den lila und gelb gestreiften Anzug tragen. Endlich, flüstert mir Vater zu, bist du ein Gleicher! – Zur Migränetherapie beziehe ich heute eine erste Schläfen- und Nackenmassage. Der Behandlung geht eine summarische Anamnese voraus, bei der ich manches von mir preisgebe, mehr als die Heilerin wissen will. Das läuft ganz ohne Peinlichkeiten ab, mir bleibt ja klar, dass auch letzte verbale Offenheit das Wesentliche nicht kenntlich macht, im Gegenteil – je mehr ich preisgebe von mir, desto mehr verdunkle ich mich. Merkwürdige Vorstellung: Ich könnte mich durch eine Generalbeichte zum Verschwinden bringen und dennoch in meinen Geständnissen für einen flüchtigen Augenblick präsent bleiben. Auf die sanfte Massage, bei der ich mit geschlossenen Augen den Duft und den Atem der Heilerin in mich aufnehmen soll, folgt ein leises Gespräch, dazu gibt es heißen hocharomatischen Chinatee aus flachen durchscheinenden Schälchen. So wird Schmerz durch Wellness konterkariert. Für mich eine angenehme, völlig wirkungslose Behandlung, deren Kosten sich auf eine Stunde Lebenszeit und fünfundsiebzig Franken Honorar belaufen. Kaum bin ich zu Hause, spüre ich gleich wieder den üblichen üblen Zauber – wie die Migräne kribbelnd in die Schläfen steigt. – Kein Leib, dem nicht die Wut
aaaaaaus der Welt hilft. Kein Aber, das nützt. Und
aaaaakeiner da, die noch fehlende Wunde zu spenden.
– Jährlich landen weltweit fast anderthalb Milliarden Tonnen konsumierbarer Lebensmittel im Abfall. Das ist rein rechnerisch etwa viermal so viel wie nötig wäre, um das Hungerproblem global zu bewältigen – eine am Dienstag in Genf vorgelegte Studie belegt dies mit Fakten und Zahlen. Dass Lebensmittel aus allgemein akzeptierten ökonomischen Erwägungen – Umsatz, Gewinn, Rentabilität – in solchem Volumen entsorgt werden und denen entzogen bleiben, die in permanenten Hungerkrisen vegetieren, ist einer der großen zivilisatorischen Skandale dieser Zeit. Die Milliardensummen werden gegenüber Abermillionen von Menschenleben … von verelendeten, verkommenen, verlorenen Menschenleben nicht mal mehr aufgerechnet, solang die Rechnung derer, die das Sagen haben, stimmt; und die Rechnung derer, die das Sagen haben, stimmt, wenn zuletzt ein in Ziffern darstellbares Plus zu verzeichnen ist. Das verdammte Pech der Bedürftigen und Versehrten besteht darin, dass Werte wie Zufriedenheit, Wohlergehen, Gesundheit oder gar Glück nicht als Zahlenwerte festzuhalten und zu verrechnen sind. Nach dem jüngsten UNO-Welthungerbericht (er stammt vom vergangenen Oktober, ich hab ihn aus der FAZ ausgeschnitten) hat jeder Achte nicht genug zu essen – insgesamt sind das rund achthundertsiebzig Millionen hungernder Zeitgenossen. Allein die in den Industrienationen jährlich entsorgte Lebensmittelmenge von dreihundert Millionen Tonnen würde – theoretisch – für die angemessene Ernährung dieser Menschen ausreichen. In Milliardenwerten sind ja auch, was jeder wissen kann und kaum jemand wissen will, die Gewinne und Verluste aufzurechnen, die durch Verschmutzung, Auspowerung, Verwüstung und – auch – der rücksichtslosen Begradigung und zivilisatorischen Unterwerfung der weltweiten Restnatur angerichtet werden. Dringend braucht’s eine neue Theorie und Praxis der Weltwirtschaft, die nicht mehr grundsätzlich von Zuwachs, Gewinn und Fortschritt ausgeht, sondern umgekehrt davon, dass Fortschritt nur noch durch kalkulierte Rückschritte zu erreichen ist.

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