14. Mai

Pfingstbesuch bei Mutter zum gemeinsamen Mittagessen … zum üblichen Erfahrungs- und Erinnerungsaustausch; interessant ist dabei – stets von neuem – die Beobachtung, wie ungleich und wie lückenhaft man sich an gemeinsam Erlebtes erinnert, die Frage, ob und inwieweit man sich bewusst etwas merken oder bewusst etwas vergessen kann. Ich tendiere dazu, Gutes und Schönes zu vergessen, mich aber exakt an Peinliches oder Anrüchiges zu erinnern. Auffallend auch, dass ich an Schmerzerlebnisse – Schmerz gehört zu meinen prägenden, ständig wiederkehrenden Erfahrungen – keinerlei Erinnerung habe; ich erinnere mich einzig an die Umstände gewisser Schmerzerfahrungen, an Anlässe, Situationen, Begleiterscheinungen, nicht aber – nie – an den Schmerz als solchen. – »Ich dürste, wie meinesgleichen alle, nach sehr viel Licht, nach Licht pur und offenbar. Dafür reicht die liebe Sonne nicht aus. Die Sonne hat nicht genug Zukunft. Das Licht, das ich meine und von dem ich abhängig sein möchte, ist nie nicht anderswo. Immer dort. Immer weit fort, es ist das schonungslose Licht, dreist und erhaben zugleich, das keine Schatten wirft. Mein Licht hilft nicht, weist nicht, ist reiner – ich könnte auch sagen: ist roher – Vorbehalt. Dumpf und despotisch wie ein sehr großer Schmerz. Undurchsichtig wie die gute alte Sonne, als sie noch schwarz war. Ein Licht, das so beschaffen ist, kommt ohne Wärme aus und erhellt nur insofern, als es blendet. Solche Blendung wünsche ich mir für jede kommende Nacht. Und all die schönen Farben? Die benötigt mein Licht nicht, die schlummern im schwarzen Quadrat und sind dort für immer in ihrer ganzen Vielfalt untergebracht. Werden nicht mehr gebraucht. Wozu aber nicht mehr gebraucht? Wie verdreckte … wie blind gewordne Kristalle. Die öffnet keiner mehr. Zurück denn ins Licht! Da – es hält an sich und nimmt dennoch alles ein. Zu all dem, was es einnimmt, will ich auch gehören. Hören, wo nichts mehr zu sehn und nichts mehr zu fassen ist. Gehörtes kann man nicht auch noch haben wollen, Gesehenes und Begriffenes schon. Hin und weg zu sein, dazu verhilft mir jenes einzigartige Licht, das in seiner Besonderheit so allgemein und so verlässlich ist wie die Zukunft. Hin und weg. Dämmriges, Übergängliches mag ich nicht, meide ich. Dunst wie Nebel sind zu dicht für den Blick ins Unversicherbare. Aber nur das Unversicherbare hat Zukunft. Wie, so frag ich mich immer mal wieder, hat das Licht den Weg zu mir gefunden? Und woher! Da die Sonne so lang schon ihre Finsternis hat (in die naturgemäß auch der Mond eingeschlossen ist), bleiben einzig ein paar überzählige Sterne. Überzählig, aber um so heller und außerdem perfekt gebündelt. Denn es ist nicht die Zahl, die zählt, es ist die Strahlung insgesamt. Die gesamthafte heftige Helle. Und wie konnte ich aber von jenem Licht bis ins Alter nichts wissen! Dabei ist’s ganz wirklich, alles ausblendend und einfrierend, alles umgreifend und bezwingend, und ich hab’s fast lebenslänglich nicht bemerkt. Hab nichts bemerkt, obwohl man mich weithin als Seherin schätzte und ich mir auf meine Weitsicht ziemlich viel einbilden durfte. Ob plötzliche Blindheit oder späte Verblendung – erst jetzt, in dieser alles überstrahlenden Finsternis, kann ich frei über mein absolutes Gehör verfügen. Frei von irgendwelchen Sehhilfen und Augenwischereien. – Heute ein früher Waldgang bei verhängtem milchigem Licht, ich stapfe durch verwischte Schatten, und wie fast immer denke ich dabei, leider, an anderes, bin nachdenklich, statt aufmerksam zu sein. Bis aus uneinschätzbarer Ferne ein seltsames Geräusch laut wird … dann noch lauter, ein Klacken und Knirschen, ein Ächzen, ein Schnauben und bald ein merkwürdiger Sang. Mir entgegen kommt zwischen den Bäumen ein nie gesehenes Gefährt, gezogen von zwei schmalen Pferden, die auf dem unebenen, hier ziemlich steil ansteigenden Steinpfad auf ihren Hufen daherrutschen. Auf dem Bock des schwarzen, reich verzierten Kutschenwagens (Sargwagen?) schwingt singend eine dicke Frau die Zügel und die Peitsche, neben ihr thront ein riesiges Hundetier, dreckweiß, zottig, mit über die Augen fallenden Fransen – die Frau grüßt, ohne sich umzuwenden, mit einem verschmierten Triller, und die geräuschvolle Erscheinung ist vorbei. – Ich muss die Ruhe (zum Tod hin) selber schaffen, der Freitod darf für andere nichts bedeuten, soll beiläufig, marginal, in keiner Weise zeichenhaft sein, er soll nur einfach stattfinden, ohne vorherige Krise, ohne Ankündigung, ohne Abschiedsbrief. »Abhumanisation totale« – Begriff von Jean Paulhan; und dahin sind wir unaufhaltsam unterwegs. – Wetter auf und ab, ebenso das Messer im Kopf, im Bauch; bei Krys ist es umgekehrt – der Wetterwechsel gibt ihr Auftrieb, regt sie an, macht sie schlaflos, doch bleibt’s bei den Impulsen, sie kann die einschießende Kraft weder bündeln noch umsetzen. So folgt dann jedes Mal auf das Glück der Fall. Da geht’s mir, bei aller Zerknirschung, aufs Ganze gesehn besser – die Krise, der Krampf fällt mich, »ich bleibe am Boden bis neun«, steh dann aber ziemlich mühelos auf und bin gleich wieder in der früheren Intensität. – Postume Gedenkveranstaltung an der Musikhochschule Zürich zum 101. Geburtstag von Constantin Regamey. Wir finden uns – zwanzig, dreißig Hörer im feuchtschwülen Kleinen Saal unterm Dach – für zweieinhalb Stunden zusammen. In weitschweifigen, insgesamt unergiebigen, ohne jedes Engagement vorgetragenen Referaten wird Regamey als Indologe, Buddhologe, Slawist, Musikologe, Komponist gewürdigt. Als Beleg für seinen »Humanismus« führt eine Professorin aus Paris die Tatsache an, der Verstorbene habe als schwer von der Krankheit gezeichneter Mann auf rührende Weise sich selbst ähnlich gesehen – sich selbst als sechsjähriges Kind. Wie … woher kann die Dame das wissen? Was will sie – uns – damit sagen? Auf die Wortbeiträge folgt eine Aufführung von Regameys reich auskomponiertem Quintett aus den Kriegsjahren 1942–44. Im Publikum bemerke ich erst nach dem Ende des Konzerts Simonida Simonidis; sie ist irrtümlich aus Lausanne hergefahren, weil sie – wie sich nun herausstellt – Constantin Regamey mit ihrem polnischen Großonkel Konstanty Regamey verwechselt hat, dessen Tochter, die Musikologin Zofia Lissa, ihre, Simonidas, Lieblingstante gewesen sei. Usf. So trifft man sich, so verliert und vergisst man sich auch.

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