14. Oktober

aaaaaIch kann nicht.
aaaaaIch verweigre mich. Hab nie den Hirtenpfiff beherrscht
aaaaa… war nie gut im Umgang mit der Schleuder
aaaaa… im Fotzenzeichnen an Toilettenwänden
aaaaa… im kameradschaftlichen Singen
aaaaa(Doch das ist nicht das Problem.)

aaaaaDas ist die Offenbarung der Welt als Mediokrität!
aaaaaUnd wenn die Menschen bloß Entwürfe sind,
aaaaadie Nase aufgedrückt mit einem fahrigen Daumenpuff,
aaaaain den hohlen Augen stets ein Ausdruck hündischer Jovialität
aaaaaoder Bitterkeit, mit dem Frohsinn, den die Volkslieder
aaaaabefeuern oder der Wein oder – ein schlichter
aaaaaSonntag, wenn man in festlicher Kleidung
… (bricht ab; fragmentarische Übersetzung nach einer italienisch-französischen Parallelausgabe von Pier Paolo Pasolinis Gedichten.) – Konzertbesprechung in der NZZ (Klavierrezital) – im ersten Absatz, auf einem Dutzend Zeilen, kommen folgende Wörter vor: bunt, strahlend, Gemälde, Bild, Wellen und Hügel, Sturm und Stimmung … wo aber bleibt die Musik? Das ist die übliche Hilflosigkeit der Kritik, die es nicht schafft, Gehörtes adäquat in Sprache zu fassen. Aber ist denn Gehörtes, im Unterschied zu Gesehenem, überhaupt sprachlich zu begreifen? Fragt sich, weshalb Gesehenes soviel leichter zu beschreiben ist und weshalb es so widerstandslos akzeptiert wird als Metapher für Gehörtes. – Es ist – Mitte Oktober – nochmals sehr warm geworden heute. Ich verlasse das Haus kurz nach elf Uhr, steige zum Oberwald, wähle diesmal eine neue Route – den Reitweg, der über den Hügel nach Premier führt. Ich gehe mit offenem Hemd, die Hitze drückt. In unregelmäßigen Abständen – fünfzig, zweihundert, achthundert Meter – treffe ich zwischen den tiefen Radspuren der Forstfahrzeuge auf einen mächtigen Pferdemisthaufen, sieht jedes Mal aus wie ein unordentlicher Stapel von kleinen Kanonenkugeln, schwarz, mit gelblichen Strohhalmen versetzt und … aber wenn ich nähertrete, erhebt sich jedes Mal wie auf Kommando ein kompakter Fliegenschwarm, erhebt sich sirrend, setzt sich, metallisch funkelnd, schräg in die Luft ab und zerstiebt. Keinem einzigen Spaziergänger, keiner Reiterin, auch nicht Diana bin ich diesmal begegnet. Nur diesen von Fliegen wimmelnden Kothaufen. – Ich werde nun wieder für länger in Romainmôtier bleiben, habe manches aufzuarbeiten, will da und dort mein Romanskript anbieten, bleibe mit meiner russischen Lyrikanthologie beschäftigt (es fehlen noch manche Einzelkommentare, die poetologische Einführung, die Bibliografie). Demnächst erwarte ich aus dem Berliner Max Planck Institut die Korrekturen zu meiner Arbeit über Antlitz und Torso; zu erledigen sind außerdem diverse publizistische Aufträge. – (Motto:) »If we wish to know about a man, we ask ›what is his history – his real, inmost history?‹ – for each of us is a biografy, a story.« Gefunden bei Lawrence Durrell und … aber als Motto wozu? – (Entwurf für eine Vorbemerkung zu meinem nun abgeschlossenen Roman ›Alias oder Das wahre Leben‹:) Ich verdanke und widme dieses Buch meinem verstorbenen Freund und Kollegen Carl Berger alias Kirill Beregow (1922–1995), der mir auf ausgedehnten Spaziergängen – zuerst in Leningrad, zuletzt in Zürich – den Roman seines Lebens eröffnet und schließlich auch sein Verbrechen gestanden hat. Er tat es in vielen Anläufen, mit vielen Widersprüchen und Wiederholungen, und er wurde auch nicht ganz fertig damit. Naturgemäß – das Ich des Erzählers kann nicht sterben in der Erzählung – musste in seinem Bericht der Tod ausgespart bleiben. Diesen trage ich hier am Leitfaden eigener Erinnerung und Einbildungskraft nach. Gehörtes, Gesehenes, Gelesenes verbinden sich mithin zu einem Leben, das einzig als Roman seine Verwirklichung und also auch seine Vollendung findet. Alle darin vorkommenden Personen haben tatsächlich – wenn auch z. T. unter andern Namen – gelebt, und alle rapportierten Vorkommnisse sind durch offizielle oder private Dokumente belegt. Dennoch kann nicht das Erzählte, nur das Erzählen authentisch sein. Um solche Authentizität – oder Wahrhaftigkeit – geht’s in dem, was folgt.

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