15. April

Ich befinde mich in einer Notgemeinschaft mit unübersehbar vielen Menschen, teils mir bekannten, meist aber nie gesehenen Zeitgenossen. Wir halten uns mit ein paar wenigen Habseligkeiten in niedrigen Transiträumen auf … unter wilden Büschen … in verlassenen Stadtteilen … in einer ausgebrannten Ölförderanlage. Eine Katastrophe unbekannter Art hat stattgefunden, wir sollen warten, sagt die Computerstimme, bis man uns zu einer Kaserne bringt, wo wir untersucht werden sollen. Jeder drückt sein Bündel an sich, Unterwäsche, Esswaren, Erinnerungsstücke. Da sind Armin Wildermuth und Werner Hinden, dazu viele Unbekannte, viele Schwarze, viele Kuttenträger. In der Ferne, inmitten brennender Trümmer, erkenne ich Ann Holyoke in der Rolle von Lots ältester Tochter; sie ist sehr schmal geworden, ihr Leib wirkt knabenhaft, sie geht hinkend auf und ab, trägt einen fußballgroßen Dodekaeder auf dem glatten Scheitel. Der Arzt, der Anns Hüfte operiert hat, sitzt neben mir, lehnt lautstark jede Verantwortung für die Operationsfolgen ab. Zum Überleben versammelt man sich in einer Ecke des Transitraums, wir kauern am Boden, mit Bedacht knabbert jeder an seinen geretteten Resten. Ich bin erstaunt, in einem der Aborte ein Basler Brot vorzufinden, einen von Wasser und Urin aufgeweichten halbpfündigen Laib; erstaunt auch, dass hier Aprikosenblüten zuhauf in der Luft stehen, mal auf diese, dann auf jene Seite gleiten und nun sehr langsam zu Boden sinken. Ein Blick auf den Rhein zeigt – der Fluss ist zu einem stehenden Gewässer verflacht, auf dessen Grund ein großer aufgeschlagener Blindband liegt, die weißen, sich auflösenden Seiten gleiten wie Quallen unter der Wasseroberfläche her und hin. Lange beobachte ich das Geschehen im Tümpel, höre plötzlich meinen Namen rufen, ach, ich sollte ja mit den andern zusammen zur Kaserne gefahren werden, sehe grade noch, wie der Armeelastwagen losfährt, bin zu spät … es ist zu spät für jedes noch so schlimme Geschick.Descartes dagegen! – Ich lese wieder in den ›Meditationes‹, bin wie jedes Mal überwältigt von der Souveränität, Einfachheit, Klarheit, Unbeirrbarkeit dieses Autors, der nicht zuletzt auch ein großer Schriftsteller ist – was mir erst jetzt ganz deutlich wird, da ich erstmals seine physiologische Beschreibung des menschlichen Herzens und der Herzfunktionen im Zusammenspiel mit andern Organen unter der Hand habe. Großartig das kompromisslose Ringen von Descartes zwischen Glauben und Wissen, großartig die Rechtfertigung des Glaubens durch rationale Erwägungen, großartig der ontologische Gottesbeweis, ausgehend von Ego und Cogito. – Höre im Auto unterwegs nach Baden-Baden den ›Erlöser‹ von Klaus Kinski (Thomas Knoefel hat mir die Lesung auf eine CD kopiert) – unpathetische Jesusgeschichte, pathetisch vorgetragen, immer wieder unterbrochen von polemischen Zwischenrufen aus dem Publikum, von ebenso polemischen Repliken Kinskis. Kinski wagt es … er schafft es, sich in die Befindlichkeit des Erlösers zu versetzen, sich selbst in der dritten Person des evangelischen Lebensberichts auszusprechen, er tut’s mit ungeheurer schlichter Eindringlichkeit, wo es um die Armen und die Sünder geht, und er tobt, wenn er mit Matthäus von der Bedrängnis Jesu durch Phärisäer, Gelehrte, Gerechte und Rechthaber zu berichten hat. Für mich eine völlig neue Lesart der Bibel, gewalthaft und unversöhnlich, machtvoll daran erinnernd, wie brutal und wie notwendig der Kampf um den wahren Glauben ist, intensiviert dadurch, dass hier live das raunende, applaudierende, protestierende Volk mitzuhören ist. – Alexandre Kojève in seinem ›Tagebuch eines Philosophen‹ von 1920 wörtlich: »Und gibt es etwas anderes außer dem Sinnlosen, das ebenso unendlich vielfältig begriffen werden kann?« Beim Sinnlosen setzt allemal die Sinnbildung ein. Das ist das Faszinosum des Absurden – die Sinnleere will Sinnerfüllung. – Auf TV-Joiz wird das Ergebnis einer gesamtdeutschen Umfrage diskutiert, wonach junge Menschen zwischen fünfzehn und achtzehn lieber auf Sex als aufs Handy verzichten. Die Diskussion verläuft laut und kontrovers, Ironie ist nicht gefragt, es geht auch gar nicht um die Sache, sondern um die Meinung, die man als junger Mensch – Männchen wie Weibchen – dazu in petto hat.

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