15. Juli

Anders Pierre Jean Jouve, dessen Titelheldin Catherine Crachat mich einst zutiefst befremdete, mir aber in der Zwischenzeit als »nachtschwarzer Engel« vertraut geworden ist, einerseits über andere, vertiefende Lektüren (vor allem Maurice Blanchot), anderseits durch meine intensive Traumtätigkeit, die mir kaum noch irgendetwas fremd oder befremdlich vorkommen lässt. Alles bei Jouve … alles bei Catherine Crachat, vor allem sie selbst, ist schwarz, ist zumindest aschgrau … schwarz sind ihre Hände und Schultern, schwarz ihr Gesicht, ihr Geschlecht: »Es gab Frauen, die die untern Regionen ihres Körpers zeigten, so wie man normalerweise sein Gesicht darbietet, und diese Tatsache, die sich selbstverständlich ergab, so natürlich wie die Naturgeschichte, trug noch zu der Atmosphäre bei.« Die Atmosphäre, die Jouve in diesem ungewöhnlich bilderreichen und gefühlsstarken Erzählwerk – es ist so etwas wie ein episches Prosagedicht – walten lässt, gleicht der einer ewigen Karnevalsnacht, in der sich Toten- und Traumtänzer zu einem bald gravitätischen, bald obszönen Reigen zusammentun: »Dort fielen die Zobel auf die Schultern falscher Frauen, und die Rüstungen und Federbüsche kamen mit Nacken à la Josephine Baker in Berührung, die Welt, die Geschichte, die Menschen überließen sich voller Entzücken der Verwirrung. Sie schoben sich vorwärts im Geräuschwirrwarr mehrerer Orchester. Auf einer glühenden Bratpfanne kommen und gehen die Partikel, klammern sich entschlossen aneinander, stoßen einander ab, vermählen sich. Genauso paarten sich die mechanischen Tänzer im Vorder- und Hintergrund und gingen wieder auseinander, wenn die Sache erledigt war. Als schwarzer Gegenstand, als maskierte Frau war Catherine Crachat die Sensation. Tutenchamun und die Königin von Belgien wirbelten um sie herum. Polizisten, Kartenlegerinnen stellten die üblichen Fragen, wenn sie sie sahen. Die dicke Königin Margot und etliche Römer blieben stehen, sogar Napoleon I., der Madame Réjane begleitete; diese trug ein perlgraues Kostüm mit Ballonärmeln und einen Hosenrock und schob mit einer Hand ein Fahrrad. Milchhändler aus der Vorstadt und wirkliche Mädchen schenkten dem schwarzen Domino kaum weniger Aufmerksamkeit. Sogleich war Catherine darüber aufgebracht. Was war denn an ihr, dass sie so schnell zum Mittelpunkt dieses Pandämoniums wurde. Sie teilte die Menschenmengen. Wohlgemerkt, sie suchte den Boden.« Das einzig Verbindende in und an diesem hektischen Erzählstrom ist dessen völlige Ungebundenheit … ist eine Unverbundenheit, die man sonst nur aus Träumen kennt. Belgien, Bratpfanne, Tutenchamun, Hosenrock, Fahrrad, Margot, Domino, Polizisten, Napoleon … der Erzähltext mutiert hier zum Beschreibungstext und erweist sich letztlich als eine Aufzählung disparater Namen und Gegenstände. Pierre Jean Jouve war bei der Niederschrift des Romans mit dem Freudianismus ebenso vertraut wie mit dem Surrealismus, beides hat er sich literarisch souverän zunutze gemacht, ohne sich dabei in irgendeiner Weise einengen zu lassen. Entstanden ist ein Werk, das einzig zu den möglichen Welten des Wahns, des Traums, der Fantasie einen Realitätszugang hat, derweil es sich der fassbaren, der erfahrbaren Realität der Außenwelt verschließt. Das Faszinosum, das sich mir erst heute eröffnet, besteht eben darin, dass hier ein literarischer Raum … eine literarische Wirklichkeit eröffnet wird, die es außer in diesem Buch nirgendwo sonst hienieden gibt. Hier und nur hier, im Text, konstituiert sich alles Mögliche zu einer realen Vorstellungswelt, die ich, wie jeder Leser, unentwegt … unentwegt staunend durchquere. – Das ist heute nicht mein Tag … ein lichtvoller Tag von transparenter, sanft erhebender Heiterkeit, der schon am mittleren Vormittag in duftende Hitze umschlägt. Erhoben fühle ich mich aber keineswegs, erhaben schon gar nicht. Der heutige Waldgang ist, obwohl zu zwei Dritteln des Wegs stark ansteigend, eher ein Niedergang. Ich fühle mich angezogen, von allem, was unten ist, und eine grundlose … eine gegenstandslose Irritation bringt mich inmitten der Herrlichkeit – Licht, Luft, Farben, Gerüche, Geräusche scheinen für immer versöhnt zu sein – zum Fluchen. Der Wind hängt, zu leichten Brisen gebündelt, bald in Kniehöhe, bald hoch über mir in den Wipfeln und lässt immer wieder anders von sich hören. Für mich übersetzt sich sein Rascheln, Säuseln, Rauschen automatisch in – gleichsam – menschliche Verlautbarungen … in murrende, keifende, fragende, fordernde, schmeichelnde Stimmen, die mich annehmen lassen, ich befände mich hier tatsächlich in Gesellschaft … in der unerwünschten Gesellschaft von lauter Zeitgenossen, die ebenso irritiert sind, wie ich es bin. Das muss eine gefühlsmäßige Projektion meiner innern Verdüsterung zentrifugal nach außen sein – da ich der Schönheit, die mich umgibt und der ich schutzlos ausgesetzt bin, nicht entsprechen, ihr nicht genügen kann, muss sie herabgemindert werden … herabgemindert auf gewöhnliches menschliches Maß. Ob darin das Wesen der Magie liegt, die in allen Dingen etwas Menschliches … etwas für den Menschen Bedeutsames zu erkennen glaubt und meist auch zu befürchten hat? – Es ist tiefer Winter, torkelnder Schneefall, die Straßen vermatscht; ich bin unterwegs zur Technischen Universität, um mein Seminar zur Einführung in die Sowjetologie zu eröffnen, weiß aber nicht, wo das Gebäude sich befindet, fahre mit meinem Saab Richtung Bahnhof, überall Baustellen, Staus, Umleitungen, das Auto rutscht immer wieder seitlich weg. Ich bin völlig unvorbereitet, gehe in der Bibliothek rasch noch an den Regalen entlang, um mich über Neuerscheinungen zum Thema zu informieren; stoße auf zwei dicke Bände von Aleksandr Turgenew, politische Schriften, beginne im Stehen zu lesen, alles hochinteressant, bezieht sich aber natürlich auf frühere Epochen der russischen Geschichte, kein Wort zur Sowjetunion. Ich stelle die Bände zurück, erinnere mich an Gespräche mit Jefim Etkind und Carl Schmitt über ihre Erfahrungen in der Sowjetzeit; als ich endlich meinen Vorlesungssaal erreiche und durch eine Hintertür betrete, finde ich ihn überfüllt vor, die Seminarteilnehmerinnen lehnen reihenweise an den Wänden, hocken mit nackten Knien am Boden, die Veranstaltung wird zudem in einen Nebenraum auf einen großen Bildschirm übertragen. Wie froh bin ich, wie erleichtert, dass am Pult Kollege Negt steht, offensichtlich bestens vorbereitet wie gewohnt, er gibt dem Haustechniker letzte Anweisungen, ist erfreut, als er mich sieht, und sagt mich beim Publikum an als einen, der immer Schwarz trägt, mit weißem Hemd und Schlips, und wie ich nun an mir heruntersehe, stelle ich fest, dass ich nackt bin bis zum Gürtel. Also auf und davon, nur fort von hier. Neben mir im Auto sitzt Martin Walser, er ist zusammengesackt, bis zum Gürtel nackt, er röchelt vor sich hin, auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist Oskar Negt auf seinem Fahrrad unterwegs, er winkt durchs leichte Schneegestöber zu uns herüber. Ich suche weiter nach dem Gebäude, nach dem Haupteingang der Universität, kreise durch viele Baustellen um das Mathematisch-naturwissenschaftliche Gymnasium herum, in dessen Nähe ich die Universität vermute. Vor mir fährt Riklin in seinem alten schwarzen Maserati, rutscht von einer Straßenseite auf die andre, mich scheint er nicht zu bemerken. Ich entschließe mich, auf dem nächsten Parkfeld anzuhalten, um danach zu Fuß das Hauptportal zu suchen. Bin nun auf dem Parkgelände, wo es mehrere freie Plätze für Dozenten und Angestellte der Universität gibt, und da die Schranke offen ist, fahre ich hinein, probiere zwei, drei Standplätze aus, aber alle sind irgendwie abschüssig, so dass ich mit dem Auto entweder nicht hinkomme oder gleich wieder wegrutsche. Also parke ich nun auf ebenem Grund neben einer Luxuslimousine, will grade die Wagentür öffnen, als fünf oder sechs Personen mittleren Alters bei mir einsteigen wollen. Ich lasse das Seitenfenster runterfahren, frage sie, ob sie denn fahrberechtigt seien. Wir kommen ein wenig ins Plaudern, derweil die Zeit drängt, weil nämlich Walser unbedingt rechtzeitig zur Eröffnung des Seminars erscheinen muss. Doch die freundlich drängelnden Leutchen bleiben neben und vor meinem Wagen stehn, reden weiter, und ich gebe Renner verstohlen ein Zeichen, er solle sich das weiße Hemd überziehen, den gestärkten Kragen hochstellen, die Krawatte umlegen – er dreht und windet sich auf dem Autositz, um möglichst unbemerkt sich anzukleiden. Schon wieder realisiere ich, dass ich von der neusten Fachliteratur zur Sowjetologie keine Ahnung habe, stelle mir vor, es müsse doch ein Reclambändchen geben zur »Einführung in die Geschichte der UdSSR«, das sollten die Studierenden sich beschaffen, sollten es lesen, statt sich meine Nacherzählung anzuhören – so bliebe dann genügend Zeit für die Diskussion; aber vielleicht gäbe es da noch andere Möglichkeiten. Beim Nachdenken über solche Möglichkeiten wache ich auf, bin erleichtert, dass alles bloß ein Traum war. Doch es war eben ein Traum … es war mein Traum, banal und kleinmütig, nicht weniger konkret … nicht weniger anschaulich und irritierend als das sogenannte wahre Leben. Und wie wird meine Traumzeit mit meiner Lebenszeit verrechnet? Die Traumzeit … die im Traum verlebte Zeit – Sekunden, Stunden, Tage – läuft ja innerhalb der Lebenszeit und gleichzeitig mit ihr ab, nur mit ganz anderem Maß … in anderer Intensität. Was in umgekehrter Perspektive ebenso gilt, bloß dass mir dies im Traum nicht bewusst wird, da ich als Träumer vom realen Leben völlig abgekoppelt bin … solang ich am Traumgeschehen beteiligt bin, reflektiere ich nicht über das Leben, verschwende keinen Gedanken daran, könnte es, da es im Traum ausgeblendet bleibt, auch gar nicht erreichen. Mein Traum ist mein Exil … ist mein allnächtliches Exil und ist dennoch, solang er denn anhält, eine ganze Welt … ist eine gewissermaßen extraterritoriale Lebenswelt mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, eigener Physik, eigener Psychologie, eigenes Geschichte und mit … ohne erkennbare Grenzen, ohne Chronologie, ohne Sehnsucht nach Ferne und Heimat.

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