16. August

Das Highlight dieser viel zu langen, allzu heißen Tage – der Besuch bei meiner dreiundneunzigjährigen Frau Mutter in der Altersresidenz, wo sie seit kurzem, umgeben von ihren Lieblingsmöbeln und Lieblingsbildern, unter ärztlicher Aufsicht lebt. Ich empfinde so etwas wie Dankbarkeit für ihr heiteres Aussehen und Auftreten, ihren Lebensmut, ihre mädchenhaft helle Stimme. Merkwürdig, dass diese Frau, die so viele Finsternisse und Abgründe kennt, immer wieder die Freude sein kann und dass sie das auch weiß … dass sie es bezeugt durch den oftmals wiederholten Satz: »Ich will dich froien!« Neben ihr seh ich, vierundzwanzig Jahre jünger als sie, wohl ziemlich alt aus, und sicherlich werde ich nie, dem Leben wie dem Sterben gegenüber, eine vergleichbare Souveränität an den Tag legen. Das mag sich daraus erklären, dass sie nicht, wie ich, in erster Instanz mit Zeichen hantiert, sondern mit den Dingen selbst zugange ist, dass für sie der Duft, die Farbe, die Form der Blütenblätter immer schon früher da sind als der Name der Rose, der bei mir nie nicht zuerst kommt, den ich als Bedeutung erfasst haben muss, bevor ich Duft, Farbe, Form sinnlich wahrzunehmen vermag. Meine Wahrnehmung ist also, nicht anders als meine Lektüre, ein Übersetzungsakt. – Wach um sieben, der Morgen mausert sich zum Tag, ein kühles Grau dämpft noch die Farbenpracht; zur Post, zum Bäcker, dann Frühstück auf der Gartenterrasse – die Presse von heute breitet die Neuigkeiten von gestern aus. Leichter Regen setzt ein, stiebt über den Tisch, zieht feine, rasch sich verlaufende Strähnen quer durch die aufgeschlagene Zeitung. Für einen Moment habe ich den Eindruck, dass die auf der Schieferplatte zerplatzenden Tropfen sich sofort in Dampf auflösen. Ich halte die linke Hand mit der Innenseite nach oben und mit gespreizten Fingern in die Höhe und spüre … glaube zu spüren, dass das herabrieselnde Wasser wärmer ist als die Luft. Der Regen, so scheint es, schlägt auf, um in wehenden Schwaden gleich wieder aufzusteigen. Die feuchte Wärme hängt plötzlich schwer über allen Dingen, scheint alles aufzuweichen, die Konturen verlieren sich, meine Haut tut sich auf, wird durchlässig, im Ellenbogenknick vermengen sich Regen und Schweiß. Bald überströmt mich die fiebrige Hitze, rinnt von den Schläfen zum Hals, vom Nacken zwischen die Schulterblätter. Gleichzeitig verstärkt sich der Regenfall, zieht schräg über den Tisch, schwemmt mir das Frühstücksgeschirr voll, plätschert in den Tee, durchnässt die Brötchen. Auf! Ins Haus! – Auf Marie Luise Kaschnitz bin ich, noch in meiner Gymnasialzeit, erstmals aufmerksam geworden durch Hugo Friedrich, der im Anhang zu seiner vieldiskutierten Streitschrift über ›Die Struktur der modernen Lyrik‹ ein Gedicht von ihr abgedruckt hatte. Es handelte sich, so weit ich mich erinnere, um ein Stadtgedicht mit römischer Kulisse, das in gleichsam kubistischer Raffung und Verdrehung eine Straßenszene evoziert. Ich war begeistert – für mich war das kurze Gedicht ein überzeugender Gegenzug zu Friedrichs pauschaler Formalismuskritik, und ich wollte nun sofort mehr von dieser Autorin lesen. Geriet dann aber (warum – weiß ich nicht mehr) erst einmal an ihre Prosa, las Erzählungen, Betrachtungen, Essays, hörte ihre Radiostücke, hielt mich aber nie länger bei ihrer Lyrik auf, und bald verlor ich sie gänzlich aus dem Focus meiner literarischen Interessen. Es kamen statt dessen Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Christine Lavant, bald auch die französischen und russischen Modernisten, und Marie Luise Kaschnitz verlor für mich an Attraktivität. Während Jahrzehnten begegnete sie mir nicht mehr, bis ich vor kurzem in einer Bücherkiste an der Seefeldstraße auf einen Band der Bibliothek Suhrkamp stieß, in dem die Kaschnitz unter dem Gesamttitel ›Orte‹ Schauplätze ihres Lebens beschreibt. Es handelt sich um eine Sammlung starker Prosastücke, die auf jeweils einer Druckseite Kindheitsorte, Kriegsorte, Bildungsorte, Glücksorte, Krankheitsorte, Schreckensorte, Liebesorte, Sterbeorte evozieren, die für die Autorin in irgendeiner Weise prägend geworden sind. Diese Orte werden im Rückblick gewissermaßen inventarisiert, sie werden durch dichte Beschreibung festgehalten und von der Gegenwart her neu ausgeleuchtet, kritisch betrachtet, intensiv befragt, manchmal auch hochgemut gefeiert. Dabei geht Marie Luise Kaschnitz mit hoher Sensibilität und Intelligenz ans Werk, ihr Stil ist schnörkellos, ihre Sprache ebenso schlicht wie nuancenreich, keine lyrische Prosa zwar, aber doch eine Erzählbewegung an der Grenze zum Prosagedicht, wo sich Bildhaftigkeit, Begrifflichkeit, Intonation und Syntax mit besonderer Prägnanz vereinen und zur Geltung kommen. Charakteristisch für diese Erinnerungs- und Beschreibungskunst ist ihre Tendenz zur Aufzählung … zur Aufreihung von disparaten Namen und Gegenständen, Ideen und Reminiszenzen. Oft werden Rundgänge, Spaziergänge, Erkundungsgänge in der Art von Panoramafahrten beschrieben, bei denen sich die widersprüchlichsten Wahrnehmungen zu einem integralen Gesamteindruck zusammenschließen. Ein Gang durch Königsberg, ein Gang durch die römischen Katakomben, ein imaginärer Gang durch sämtliche jemals besuchten Museen usf. Da gibt es den langen Weg nach Königsberg hinein, durch Königsberg hindurch und wieder aus Königsberg hinaus »über den Paradeplatz, wo der liebenswürdige Kant gewohnt hatte« – ein Weg vorbei am Warenhaus, am Schauspielhaus, an der Autohandlung, am Frauenverein, an Häuserzeilen und Einkaufsläden, am Bahnhof, am Polizeirevier, am Kriegerdenkmal, durch Alleen mit Hakenkreuzfahnen, durch die Hufenallee, die Hardenbergstraße, die Weihnachtssternstraße, die Marzipanstraße und … und zurück. Zurück in eine verlorene Zeit, eine verlorene Welt, deren einstige Namen nur noch als Verlust-, als Totenlisten erhalten sind. Bei Marie Luise Kaschnitz fügen sich diese Listen zu hochkarätiger dichterischer Prosa. Zu lesen! – Der einflussreichste künstlerische Autor des vergangenen Jahrhunderts wird Walt Disney gewesen sein; niemand sonst hat die Produktion wie auch die Rezeption von Kunst so nachhaltig geprägt wie er – weder Picasso noch Joyce noch Schostakowitsch können seinem genialischen Infantilismus gerecht werden, der heute vom Automobildesign bis hin zur Tourismus-, Sport- und Werbeindustrie alles beherrscht. – Das Jahr kommt in die Neige, morgen wird die große, stellenweise hüfthoch stehende Magerwiese zum dritten Mal gemäht, unter den kurzstämmigen, weit ausladenden Apfelbäumen im westlichen Gartenteil hockt der süßliche Geruch des faulenden Fallobsts. Die Vorzeichen des Herbsts sind diesmal weniger deutlich wahrnehmbar, da der Sommer insgesamt eher düster und feucht war. Vielleicht bekommen wir dafür mal wieder einen goldenen Oktober. – Ich werde ein Autor mit ganz viel Vergangenheit, wenig Gegenwart und noch weniger Zukunft gewesen sein. Gewesen sein, aber vielleicht werde ich ja noch. Überzeitlich zu sein ist allemal besser, als zeitgemäß zu sein. Außerdem gibt es aber jenen Bezirk, in dem ich mit mir allein bin und mit mir allein etwas anzufangen habe. Auch ohne Publikum. Ohne Nachkommenschaft. So halte ich es und fahre nicht schlecht damit. Regelmäßig Tagebuch, Traumprotokolle, Lektürenotizen aufnehmen und täglich ein fremdsprachiges Gedicht ins Deutsche bringen. Für nichts. Für mich. Nur um irgendwie der Sprache gerecht zu werden. Das sind asketische Übungen, für die es keinerlei Lohn gibt, an denen kaum jemand teilhat, die man lächerlich, überflüssig, unergiebig oder auch selbstquälerisch finden mag. Übungen in Disziplin und Wahrnehmung und Selbstvergewisserung. Manchmal – nur in stärkeren Momenten! – möchte ich einer sein wie Buster Keaton oder Samy Molcho, unabhängig … unbehindert von der Sprache, ganz Leib, ganz Gesicht und Gehör, ganz Ausdruck – mal ganz Freude, mal ganz Gram, alles unvermischt und unvermittelt. Statt immer nur Übersetzer und Hermeneut zu sein.

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