16. Februar

Auch bei dieser beißenden Kälte tummeln sich die Meisen – fast schon könnte ich sagen: tummeln sich meine beiden Hausmeisen im knorrigen Gezweig des Aprikosenspaliers vorm Küchenfenster. Das Außenthermometer zeigt zwölf Minusgrade an; ich bin erstaunt und auch ein wenig belustigt darüber, wie munter … wie unangestrengt sich die molligen Vögel bei solchem Frost bewegen – wie leicht, fast schwerelos sie durch das Gitterwerk der kahlen Zweige hüpfen, im Flug sich drehend und wendend, ohne irgendwo anzustoßen oder sich im Geäst zu verfangen. Ich füttere die Meisen nicht; sie besuchen mich – oder besuchen sie den Aprikosenbaum? – ohne Einladung und ohne Lohn. Einfach so. Um dagewesen zu sein. Auch ohne mich. – Ich lese Krys ein paar längere Passagen aus Jean-Paul Sartres Autobiografie ›Les mots‹ vor. Wie alles von Sartre ist auch dieser Text verhältnismäßig fahrig hingeschrieben, leicht und witzig und doch immer wieder angereichert durch brillante, auch tiefsinnige Reflexionen, durch genialisch eigensinnige Formulierungen, sogar durch poetisches Flair wie in dem Satz: »… un gros rougeaud, rugueux, au dos de cuir, qui sentait la colle …« Das klingt beinah wie ein Vers von Mallarmé (was mir erst beim Vorlesen bewusst wird), und es ist kein Einzelfall … es ist eine der zahlreichen Stellen, wo sich Sartres Rede- beziehungsweise Schreibfluss sozusagen kataraktisch intensiviert, was genau der Absicht des Autors entspricht, sich des eigenen Lebens am Leitfaden der Sprachaneignung zu versichern. Dass diese Versicherung am Beispiel von Einzelwörtern geschieht, die vor allem als Klangereignisse, und nicht als Bedeutungsträger wahrgenommen werden, ist für mich besonders aufschlussreich … ist eine Erfahrungstatsache, die in der Poesie ihre künstlerische Bestätigung findet. – Verglichen mit der Natur und deren Unversöhnlichkeit und Gleichgültigkeit ist der Mensch – im Bösen wie im Guten – ein ewiger Anfänger und Stümper; anderseits gehört er ihr – der Mensch der Natur – noch immer irgendwie an. – Seit zwei Jahren heize ich ausschließlich mit Totholz aus dem eigenen Garten und dem nahen Wald. Das nicht gelagerte Holz trägt noch eine gewisse Feuchtigkeit in sich, ist schwer in Brand zu setzen, lässt eher ein Zischen denn das gewohnte Knistern hören, brennt und glüht aber länger als das Spaltholz aus dem Réduit. Wie sehr sich Menschen – übrigens! – auch beim Feuermachen unterscheiden, fällt mir jedes Mal wieder auf, wenn Krys das Einheizen übernimmt … wenn ich sie beim Aufschichten und Anzünden der Scheite beobachte; sie geht ganz anders vor als ich, baut immer gleich den ganzen Holzstoß auf, der verheizt werden soll, derweil ich mit Kleinholz und Tannenzapfen beginne, dann leichtere Scheite, dann schwerere Scheite nachschiebe und das Feuer über Stunden hin immer wieder alimentiere, um es stets auf ungefähr gleicher Flamme zu halten. – Jonathan Littell kommt jetzt mit seinem NS-Epos ›Les Bienveillantes‹ nach Deutschland und wird hier von einem dissonanten Kritikerchor empfangen. Ich habe das Buch – zu deutsch: ›Die Wohlgesinnten‹ – schon länger in der Originalausgabe im Regal, aber mehr als ein paar hundert (von insgesamt rund anderthalbtausend) Seiten mochte ich bisher nicht lesen. Dabei wird’s bleiben. Ich halte diesen wortreichen Tatsachenroman für ein ambitioniertes, genauer: für ein auf ambitionierte Weise misslungenes Projekt, das die Bewältigung des Holocausts erneut ungut problematisiert. Denn mit Max Aue, dem hochgebildeten schwulen Intriganten, Muttersohn und Schlächter, wird eine Figur von roboterhafter Künstlichkeit und Vorhersehbarkeit vorgeführt, die von menschlicher Normalität weit ins Unmenschliche, wenn nicht Übermenschliche abgehoben ist – zu gebildet, zu extravagant und allzu pathologisch. Damit wird die Schuldfrage einmal mehr auf einen Ausnahmetypen überwälzt und also die Tatsache ausgeblendet, dass vor allem Menschen wie du und ich den Naziterror ermöglicht und auch praktiziert haben. Nur durch millionenfaches Mitläufer- und Mitmachertum konnte dieser Terror bis in die Gaskammern und an die Kriegsfronten getragen werden. Für die Ausführung der Massenmorde – Auschwitz … Katyn … Babij Jar – brauchte es Abertausende von Handlangern, und diese waren ebenso leicht zu rekrutieren wie die kleinen Denunzianten oder die zahlreichen Intellektuellen, die am großdeutschen Geist zu genesen glaubten. In dieser Optik kommt mir Littells Bewältigungsversuch eher wie ein Versuch der Beschwichtigung vor. – Anders der Film ›Zwei oder drei Sachen, die ich von ihm weiß‹, den gestern Malte Ludin aus Berlin im Arc zur Diskussion gestellt hat. Der sachgerecht zusammengeschnittene Dokumentarstreifen ist ein bemerkenswertes Memento für Maltes Vater Hanns Ludin, der 1947 als ehemaliger Gauleiter für Pressburg wegen Kriegsverbrechen zum Tod verurteilt und hingerichtet wurde – ein freundlicher Mann mit sympathischem Embonpoint, Vater von sechs (oder acht?) Kindern, in dessen Familienalbum – der Film blättert es auf – Hitler, Göring, Goebbels, Heydrich gleichermaßen zugang sind und das für die Zeit des mörderischen Horrors Bilder von ungetrübtem Familienglück bereit hält. Eine von Malte Ludins Schwestern hat sich zu Tode getrunken, die andern beteuern bis heute ihre Liebe zu ihrem Vater und weisen dessen Schuldigsprechung als Fehlleistung des Gerichts zurück. Auch angesichts der vorliegenden Dokumente, durch die mehrere Zwangsdeportationen slowakischer und ungarischer Juden in deutsche Vernichtungslager belegt sind und die ihr Vater eigenhändig unterzeichnet hat, bestehen dessen überlebende Töchter (wie übrigens auch seine betagte Witwe) darauf, Ludin habe »nichts gewusst« und habe ohnehin »nur auf Befehl von Berlin« gehandelt. Es ist eine gespenstische, eine revoltierende Familiensaga, die das ganz gewöhnliche, ebenso biedere wie dreiste Mitläufertum des deutschen Normalverbrauchers unaufgeregt dokumentiert. Malte Ludin – er ist vom selben Jahrgang wie ich – wird dafür von den Seinen mit Verachtung bestraft und sieht sich aus dem Familienverband ausgeschlossen. Ich gebe ihm beim Abschied ein gewidmetes Restexemplar meiner Erzählung ›Ewiges Leben‹ als Reiselektüre mit auf den Weg – ebenfalls eine Geschichte aus der NS-Zeit und mit NS-Thematik, hier aber in der neutraleren Optik eines schweizerischen Grenzgängers, der wegen eines naiven Missverständnisses vom deutschen Staatsterror erfasst wird und schließlich in der Kleinen Festung von Theresienstadt »an einer Kinderkrankheit« stirbt. – Es mag durchaus sein, dass heutige Abiturienten, hierzulande wie anderswo, mehr wissen … über mehr Wissensdaten verfügen als die Vordenker der Alten Welt. Fragt sich, was sie mit dem Wissen, mit den Daten anstellen. Die Alten sind doch gerade deshalb so bewunderungswürdig, weil sie mit vergleichbar geringem Wissen zu unvergleichlichen, bis heute gültigen Einsichten gelangt sind. Das Denken hatte klaren Vorrang vorm Wissen. Und … aber heute? Ist es umgekehrt! Da ich nun grade wieder bei Lukrez bin, wird mir unmittelbar klar, wie wenig Wissen mit Denken zu schaffen hat; klar, dass es keineswegs darauf ankommt, viel zu wissen, um stark und produktiv zu denken, vielmehr – umgekehrt – darauf, aus der Beschränktheit des Wissens das Denken zu optimieren. Doch wie sollte man auf diesen Ansatz zurückkommen können … zurückkommen wollen heute, da Wissensdaten in beliebigem Umfang abrufbar sind und eigenständiges (suchendes, spekulierendes, poetisches, riskantes) Denken kaum noch gefragt ist? Denk mal! – Unter meinem Namen finde ich im Internet eine Auswahl von Bildern, die entweder mich selbst zeigen oder irgendwelche Zeitgenossen, aber auch längst verstorbene historische Persönlichkeiten. Nach welchen Kriterien die Google’sche Suchmaschine die Bildergalerie aufbaut, ist mir unbekannt; ich nehme aber an, dass die Maschine zwischen mir und den vielen andern Personen, die sie hier vorführt, irgendwelche Zusammenhänge eruiert haben muss. Allerdings ist es so, dass mir die meisten der hier abgebildeten Köpfe unbekannt sind … unbekannt in dem Verständnis, dass ich mit ihnen persönlich nicht bekannt bin und in manchen Fällen auch nicht bekannt sein möchte. Merkwürdige Galerie! Und wem sollte oder könnte sie nützlich sein, wenn nicht mal ich mich darin zurechtfinde? – Ich halte Arno Borst für einen der stärksten Erzähler deutscher Sprache im mittleren und späteren 20. Jahrhundert; was dieser Autor aus dem kulturellen (religiösen, philosophischen, literarischen) Fundus der alten Hochkulturen zu berichten hat und wie er davon berichtet, das macht ihn zu einem Epiker … zu einem unvergleichlichen Chronisten menschlicher Strebungen und Irrungen, zeichnet ihn aus als einen Stilisten von höchstem Rang, lässt ihn – auch Jahre nach seinem Tod – als einsame Größe überdauern, die ihresgleichen nicht hat und die als solche auch nicht mehr gebraucht wird. Was keineswegs gegen Borsts Größe, wohl aber für die Mediokrität von uns Heutigen spricht. – Ein Vers aus Ezra Pounds erstem Canto: »A man of no fortune, and with a name to come.« Solches Zutrauen … diese Hoffnung war zu Beginn des letzten Jahrhunderts noch berechtigt. Heute müsste man wohl sagen … ich würde heute sagen: I’m a man of some fortune, without a name to come …

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