16. Mai

Krys kommt mit der Einspielung von Carl Philipp Emmanuel Bachs »Clavier«-Sonaten und Rondos durch Mikhail Pletnev – nichts Neues, aber für mich als Laien eine Entdeckung ersten Rangs; Pletnev bringt Bach luzide und klar zu Gehör, spielerisch und streng zugleich, mit riskanter Agogik, doch nie nur dem Artistischen zudienend. Eine ungewöhnliche zeiträumliche Erfahrung, wie ich sie mit Musik nur selten habe. In einzelnen Passagen – manchmal bloß in wenigen Takten – scheint Bach Tonsätze von Claude Debussy, Arnold Schönberg, auch Erik Satie vorwegzunehmen, und gleichwohl gewinnt man den Eindruck, er sei nicht deren Vorläufer oder Vorbild, sondern habe sie und manch andere bereits hinter sich gebracht. In der Literatur lässt sich Ähnliches beobachten – Villon als Nachfahr Rimbauds! Plinius als Nachfahr von Francis Ponge! – Das All sei »etwas älter« als bisher angenommen, gibt Torsten Ensslin vom Max-Planck-Institut für Astrophysik in München bekannt. Aufgrund von jüngsten fotografischen Panoramaaufnahmen könne nun ein Alter von 13,82 Milliarden Jahren (statt 13,7 Milliarden) errechnet werden. Das erste Licht des Universums habe bereits 380 000 Jahre nach dem Urknall seinen Anfang genommen, sei »also schon sehr früh« hereingebrochen – oder aufgegangen? Doch warum diese – wenn auch bloß sehr geringe – Verzögerung? 380 000 Jahre totale Finsternis und dann plötzlich – wozu? – Licht! Licht, aber keinerlei Geräusche. Dass die Himmelskörper und auch – im Normalfall – die innern Organe von Tieren und Menschen lautlos funktionieren, ist für mich gleichermaßen rätselhaft; denn vorstellbar wäre doch ohne allzu viel Fantasie, dass die Knochen in den Gelenken, die Augen in den Höhlen, das Gehirn bei Beanspruchung hörbar knirschen, knarren oder knacken – und so auch die Erde bei ihrer Drehung um die eigene Achse. Unter solch mörderischem Lärm hätte die menschliche Sprache nicht entstehen können, und sie hätte auch nicht entstehen müssen. Man hätte sich vermutlich allein mit Gesten und den dadurch verursachten Geräuschen verständigt, dies allerdings nur im kleinen Radius der Hör- und Sichtweite. – Erich Klein bittet mich für das Magazin ›Wespennest‹ um einen Schwerpunktbeitrag zum Thema »Russlands Natur«. Dazu fällt mir spontan die traditionelle russische Verehrung für die große »Mutter Erde« ein, die das Bild der Natur mit dem Bild der Frau überblendet und es so zu einer eher heidnischen denn christlichen Symbolgestalt verformt. Erde, Mütterlichkeit – das Ewigweibische im russischen Selbstverständnis, ebenso gehasst wie geheiligt, denn die Schändung der Weiblichkeit und der Natur hat nirgendwo auf der Welt solche Ausmaße angenommen wie in Russland. Vielleicht gibt es ja von beidem zu viel des Guten? Das größte Staatsterritorium der Erde, versehen mit den längsten Flüssen, den größten Seen, den höchsten Gebirgen, den weitläufigsten Ebenen, und all dies überhöht durch einen weiblich imaginierten Weltinnenraum – das hat hier keineswegs ein Gefühl der Erhabenheit, sondern der Verlorenheit im Grenzenlosen entstehen lassen. Von daher rührt vermutlich der Komplex der Minderwertigkeit und Machtlosigkeit, von dem die kollektive russische Mentalität zutiefst gezeichnet ist und der bis heute keinerlei Rücksicht auf die Natur aufkommen lässt, aber auch einen nachhaltigen Landschafts-, Gewässer-, Tier- und Pflanzenschutz behindert. Ich mag mich dazu allerdings nicht historisch-kritisch äußern, notiere lieber ein paar persönliche Reminiszenzen aus den mittleren 1960er Jahren, als ich für längere Zeit in der einstigen Sowjetunion zugange war und den »ungeheuren Raum« Russlands auf eigenen Reisen per Flugzeug, per Bahn und per Auto aus unterschiedlichen Perspektiven kennenlernte. Damals fuhr ich einen zitronengelben Zweisitzer der Marke Nash, ein Kabriolett mit durchgehender Sitzbank und Lenkradschaltung – eine kleine, nach oben offene Kabine mit sehr viel Blech drum herum. Es war im Frühsommer 1966 und es war meine erste Reise in die Sowjetunion. Ich sollte im Auftrag der ›Weltwoche‹ mit diversen dissidenten Intellektuellen in Moskau Gespräche führen und eine Reportage erarbeiten über die Stimmungslage nach dem Prozess gegen die Schriftsteller Julij Daniel und Andrej Sinjawskij, die zwei, drei Monate zuvor wegen angeblich staatsfeindlicher Agitation zu mehrjährigen Lagerstrafen verurteilt worden waren. Doch nicht um jenen Arbeitsaufenthalt geht es hier, nicht um meine Begegnungen mit Künstlern, Literaten, Theaterleuten, Wissenschaftlern, sondern um die Durchreise aus der DDR und Polen via Brest, Minsk, Smolensk nach Moskau, die für mich zu einer nachhaltig beeindruckenden Premiere wurde. Ich war, nach langwierigen bürokratischen Querelen, erstmals mit dem Auto in der UdSSR unterwegs, konnte nun, im eigentlichen Wortsinn, »erfahren«, was es mit dem mythisch verbrämten russischen Raum auf sich hat, von dem nicht nur die Literatur, sondern auch das philosophische und politische Denken zutiefst geprägt sind. Russlands »unumgreifbare Weite« – die stereotype Wortverbindung geht auf Nikolaj Gogol zurück – ist der zentrale Topos sowohl des russischen Selbstverständnisses wie auch des russischen Weltbilds, eine Weite, die gleichermaßen die Geografie und die Mentalität Russlands als »breite Natur« charakterisiert, von der sich aber auch eine Reihe »typisch russischer« Konzeptbildungen herleiten lässt, unter andern die totalisierenden Konzepte der »Allweltlichkeit«, des »Allmenschentums«, des »Synthetismus«, des »Kosmismus«, des »Weltkommunismus«. Was mir nach der langen Fahrt durch die abwechslungsreichen, landschaftlich stark strukturierten deutschen Länder (von der engräumigen Schweiz ganz abgesehen) schon bald nach Warschau auffiel, war die allmählich sich ausdehnende Horizontbreite, die sich beim Grenzübertritt in die Sowjetunion rasch zum Kreis rundet und dann über Hunderte von Kilometern tatsächlich »alles und noch viel mehr« zu umfassen scheint. Noch nie war ich auf einer so großen Distanz stetig zum Horizont hin unterwegs gewesen, zu einer Linie ohne erkennbaren Fluchtpunkt, die sich beim Blick nach links wie nach rechts endlos verlängerte und sich im Rückspiegel wieder und wieder zusammenschloss. Natürlich führte mich die schnurgerade Piste – mangelhaft asphaltiert, ohne Mittelstreifen, ohne Randmarkierungen, ohne Verkehrstafeln – hin und wieder durch ein Dorf, an einem einsamen Wachposten der Straßenpolizei oder an einer der seltenen Tankstellen vorbei, insgesamt aber hatte ich tatsächlich freie Fahrt, stundenlang gab es weder Kurven noch Kreuzungen, das Auge stieß auf keinerlei Hindernis, und immer wieder kam es mir vor, als hätte mein vollbepacktes Auto von der Straße abgehoben und stürmte, wie einst Gogols Trojka, auf unsichtbaren Luftwegen voran. Da über lange Strecken keine Gebäude, keine Bäume, keine Menschen ins Gesichtsfeld rückten, verschoben und verloren sich mit der Zeit die räumlichen Proportionen – ich selbst beziehungsweise das Auto, dessen Schatten vor mir her preschte, war nun die einzige Erhebung in der endlos sich ausdehnenden Ebene und wurde dadurch unversehens zum Maß aller Dinge. Es war ein durchaus unheimliches Gefühl, in diesem Leerraum anzuhalten, auszusteigen, sich zu recken und sich abwechslungsweise gigantisch groß und winzig klein zu fühlen, aufrecht inmitten dieser unabsehbaren Weite, die rundherum direkt an den Himmel grenzte, stehend neben den kilometerweise aufgepflügten schwarzen Erdschollen, die ich da und dort in merkwürdiger Verfremdung – wie aus dem Seitenfenster eines Flugzeugs – weit unter mir als gewaltige endlose Gebirgszüge wahrzunehmen glaubte, ein Verfremdungseffekt, der mir plötzlich auch klar machte, weshalb die Russen kein eigenes Wort für »Landschaft« haben und statt dessen vorzugsweise von der »Erde«, vom »Boden« oder einfach von der »Natur« reden. Inmitten dieser Weite zu stehen, war jedoch keineswegs gleichbedeutend mit der Gewissheit oder auch bloß dem Gefühl, in der Mitte zu sein, und erstmals wurde mir in jenen Momenten körperlich bewusst, dass es in einer Welt ohne Maß, ohne Vergleich, ohne Begrenzung eine Mitte gar nicht geben kann, es sei denn, ich selbst würde zu dieser Mitte, indem ich mich zum einzigen, mithin zum absoluten Maß dieser Welt mache. Für mich wurden die paar wenigen Sekunden meines solcherart ver-rückten Selbstgefühls zu einer persönlichen und wohl auch anthropologischen Grunderfahrung, nämlich zur Erfahrung der Exzentrizität des menschlichen In-der-Welt-Seins überhaupt. Nur gut, dass östlich von Smolensk die Dörfer und Städte und Fabriken an meinem Weg wieder häufiger wurden und der Verkehr sich zusehends verdichtete; dass es also auch wieder Vergleichsmöglichkeiten gab, die das Menschenmaß und die Maßlosigkeit eines unumgreifbaren Lebensraums gleichermaßen relativierten.

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