17. Februar

Jetzt – heute – fällt schon mal ein Lichtbündel schräg in die Landschaft, durchleuchtet den Wald, löst sich bald wieder auf, hinterlässt aber … scheint aber eine blasse Aura zu hinterlassen, die den Frühling ankündigt, die Renaissance, den April. – Die Träume sind seltener geworden, auch komplizierter, aufwendiger, uninteressanter; meistens lassen sie einen klaren Wirklichkeitsbezug erkennen, also den Bezug auf etwas, das ich schon vor dem Traum wissen konnte und das ich auch nach dem Traum nicht besser weiß. Oft bleibt es bloß bei der Anhäufung von nicht zusammengehörenden Objekten – Fadenspulen, Butterbroten, Stricknadeln, Pulswärmern, Würfelzucker, Briefumschlägen, Spinatblättern, Slipeinlagen, Glühbirnen, Ansichtskarten, Buchzeichen, Büroklammern, Duftkerzen –, die keine für mich erkennbare Funktion oder Bedeutung haben. – Machtkämpfe überall, auf Gemeinde- und Stammesebene, in Familienbetrieben, Parlamenten und Spitälern, in Regierungen oder zwischen Regierungen, in Justizbehörden und Großunternehmen. Machtkämpfe, in denen es meist auch um Geld, um Sex geht; und außerdem – überall in der Welt – Bürgerkriege, Religionskriege, Abnützungskriege, Handelskriege, Drogenkriege, Vernichtungskriege, Hungerkriege. Korruption. Repression. Ausbeutung. Zensur. Allein die Aufzählung ist bemühend, ein Kommentar oder gar eine Erklärung dazu wäre zu weitläufig, müsste bei Adam, bei Eva oder spätestens beim Turmbau von Babel ansetzen. Vielleicht genügt es, mit Lukrez zu sagen – es ist, wie es ist, weil die Menschen so sind, wie sie sind: Derartig mühen die Menschen sich nie nicht vergebens und sinnlos,
aaaaabringen ihr Leben fruchtlos dahin mit nichtigen Sorgen,
aaaaavöllig natürlich: Sie kennen noch nicht die Grenzen der Habgier,
aaaaawissen noch nicht, wie weit sich die wahrhaften Freuden erstrecken.
aaaaaDieses Nichtwissen trieb mit der Zeit sie hinaus auf die Meere,
aaaaapeitschte von Grund auf empor die Wogen entsetzlicher Kriege.
– Zu den großen Skandalen des ausgehenden 19. Jahrhunderts gehörte in Russland die Rodung gigantischer Waldflächen, von Dostojewskij bis Tschechow haben sich Autoren jeglicher Ausrichtung an diesem Sachverhalt abgearbeitet, keiner hat aber, so weit ich sehe, auch nur eine Frage verschwendet an jene Arbeitssklaven, denen Großbauern und Industrielle diese mörderische Leistung des Abholzens zugemutet haben – ohne Kettensägen, ohne Traktoren und andere technische Hilfsmittel, also von bloßer Hand wurde da Baumriese um Baumriese gefällt und über Kilometer mit ausgehungerten Pferden weggeschleppt, eine Fron, die wohl nur mit dem Bau der altägyptischen Pyramiden zu vergleichen ist. Zu vergleichen? Immerhin stehen die Pyramiden bis heute … sie stehen für etwas, das zuvor nicht da war und danach nie wiederholt werden konnte. Der russische Wald hingegen wird noch immer – bequemer und einträglicher als damals – gerodet, hinterlässt Ödland, weitet den Horizont. Die gegenläufigen Gesten der Verwüstung und der Gewinnung, des Ausrottens und der Ausbeutung bestimmen den aktuellen Umgang mit natürlichen Ressourcen. Ressourcen! Wozu auch – natürlich! – der Mensch gehört. – Ich komme mit der zweiten Lektüre von Joseph Roths ›Radetzkymarsch‹ – diesmal anhand der Erstausgabe von 1932 – zum vorläufigen Ende. In diesem Roman ist so gut wie jede Seite ein Meisterwerk für sich. Die Gesamtkomposition wie die Struktur der Abschnitte und Sätze, Psychologie wie Geschichte, Natur wie Kultur, alles wird hier in ein genau bedachtes Verhältnis zueinander gebracht; alles – so könnte man sagen – kommt hier zum Stimmen und stimmt umso mehr, als ebenso gut jederzeit irgendein Element entgleisen könnte in diesem hinreißenden Erzählfluss. Wie aus Dominosteinen ist der Plot und sind auch die oft sehr langen Satzperioden gebaut, häufig kommt es zu Aufzählungen, »und« ist die häufigste Konjunktion, das Prinzip der Liste dominiert das Prinzip der Linearität, das Komma markiert das Staccato. Nur an wenigen Stellen setzt Roth den Schnitt vielleicht zu dezidiert, überspringt er ohne Not zu viel Erzählzeit aufs Mal, zu viele psychische oder historische Entwicklungsschritte. Aber ›Radetzkymarsch‹ ist eine Endzeitgeschichte, und Endzeitgeschichten enden gewöhnlich ja doch in finaler Beschleunigung und Überstürzung. – Um die Poesie oder, prosaisch ausgedrückt, um die aktuelle Lyrikproduktion braucht man sich keine Sorgen zu machen. Lyrik wird gegenwärtig in unüberschaubarem Umfang nicht nur – wie schon immer – geschrieben, sondern auch publik gemacht, und nie zuvor gab es für lyrisches Schaffen so viele Preise, Stipendien, Diplome und andere Auszeichnungen wie heute; zudem findet Lyrik professionelle Förderung bei einschlägigen Workshops und renommierten Literaturinstituten. Demgegenüber bleibt allerdings das Kauf- und Lektüreinteresse an Gedichten auf verhältnismäßig enge Kreise beschränkt. Ein Sonderfall ist die performative Darbietung poetischer Texte durch Rap- oder Slamautoren, die in jüngster Zeit eine Hörerschaft mobilisieren, die wohl deutlich weiter reicht als der minderheitliche Zirkel gewöhnlicher Lyrikleser. Zu diesen Lesern kommen allerdings die Lyrikproduzenten selbst hinzu, die unter der Minderheit derer, die überhaupt noch Lyrik lesen, vermutlich die Mehrheit bilden. Am geringsten scheint das Lyrikinteresse bei der Literaturkritik zu sein. Lyrik findet im Feuilleton bestenfalls marginale Beachtung, wird nur noch in geringem Umfang und zumeist mit dürftiger Sachkompetenz rezensiert – die Bekundung von Gefallen oder Missfallen ersetzt gemeinhin das differenzierende Mit- und Gegenlesen, den produktiven Vergleich, die formale Analyse. Die Wechselbeziehung zwischen »Form« und »Stoff« kommt in der Literaturkritik kaum je adäquat zum Tragen, da das Interesse des Rezensenten fast durchweg auf den Stoff, den Inhalt, den Problemzusammenhang, die zeitgeschichtliche Aktualität der besprochenen Texte beschränkt bleibt, somit auf außerliterarische Kriterien wie »interessant«, »lebensnah«, »anrührend«, »überzeugend« oder, noch besser, »wunderbar«, »hinreißend«. Solche Kriterien werden in aller Regel bedenkenlos auch auf Gedichte angewandt, obwohl hier – unabhängig noch von künstlerischer Qualität – vor allem mit der Sprache und an der Sprache, mithin an der Formbildung gearbeitet wird. Doch dabei scheint sich die Kritik kaum aufzuhalten, und das Publikumsinteresse gehörte schon immer und gehört weiterhin (wie Arthur Schopenhauer einst notierte) »sehr viel mehr dem Stoff als der Form«. Dass heutige Rezensenten und Juroren fast ausnahmslos »diese Vorliebe für den Stoff im Gegensatz der Form« kultivieren und damit die Literatur als Kunst ihrer wesentlichen Dimension berauben, ist zu beklagen, nicht aber zu ändern. Nach Schopenhauer, der sich mit seinen Reflexionen ›Über Schriftstellerei und Stil‹ als Wegbereiter der poetischen Moderne ausweist, lässt sich die Qualität eines Dichtwerks nicht anhand seines Stoffs fassen, vielmehr kommt es dabei auf die »Bearbeitung des Stoffs« an. Die Stoffe, Inhalte, Gegenstände eines Werks »können solche sein, welche allen Menschen zugänglich und bekannt sind: aber die Form der Auffassung, das Was des Denkens, ertheilt hier den Werth … Hieraus folgt, dass das Verdienst eines lesenswerthen Schriftstellers um so größer ist, je weniger es dem Stoffe verdankt …« Kritik und Publikum sind nach wie vor »so einfältig, lieber das Neue, als das Gute zu lesen«. Noch immer gilt Schopenhauers prosaische Diagnose, wonach »das Neue selten das Gute« sei, »weil das Gute nur kurze Zeit das Neue« ist, und noch immer hat auch seine Forderung an die »Litteraturzeitungen« als aktuell zu gelten, derzufolge »das Schlechte herabzusetzen Pflicht gegen das Gute« sein müsse, eine Pflicht im übrigen, die ausschließlich »von Leuten« übernommen werden sollte, »in welchen unbestechbare Redlichkeit mit seltenen Kenntnissen und noch seltenerer Urtheilskraft vereint wäre«. Doch wie viele Kritiker solchen Ranges sind hierzulande am Werk? »Die denkenden Köpfe, die Menschen von richtigem Urteil und die Leute, denen es Ernst mit der Sache ist, sind alle nur Ausnahmen«, registrierte, illusionslos, schon Schopenhauer: »Die Regel ist überall in der Welt das Geschmeiß …«

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