17. Januar

Was hab ich nicht alles zusammengeschustert in diesen Tagen! Bin auch ein paar Schritte weitergekommen mit dem Roman; viel Korrespondenz, viel gelesen. Hegel, Weil, Bobin, Queneau, Blecher, Blumenberg, Radnóti, Derrida. Und wieder einmal bedauert, dass ich es immer nicht geschafft habe, über meine Lektüren wenigstens dem Titel nach Buch zu führen. Walter Benjamin hat die dafür notwendige Disziplin aufgebracht. Meine Liste wäre wohl nicht weniger lang und disparat als seine. Anderseits: Wozu und für wen sollte sie gut sein? – Verzicht auf die Früchte des Handelns (Erfolg, Gewinn, Nutzen usf.) ist der stärkere Ertrag. – Das eigene Verschwinden zu betreiben, erfordert mehr Umsicht und Mut, als sich durchzusetzen und sich aufzustellen. Emily Dickinson gegenüber George Sand. Cyprian Kamil Norwid gegenüber Victor Hugo. Franz Kafka gegenüber Thomas Mann. – Die Mystiker, Mystikerinnen, die aus Liebe (zu Gott) aufhören zu sein, erreichen die höchste Intensität des Daseins … das Äußerste an Präsenz. Bei Simone Weil lese ich nun nach: »Alles, was ich tue, ist schlecht, ohne Ausnahme, einschließlich des Guten, weil ich etwas Schlechtes ist.« Und noch radikaler: »Je mehr ich verschwinde, desto stärker ist Gott in dieser Welt gegenwärtig.« – Rufe meine Mutter an, sie hat übermorgen Geburtstag, wird vierundneunzig. Wir verabreden ein gemeinsames Mittagessen, zuvor will sie aber unbedingt noch beim Coiffeur gewesen sein und sich anhand der dort aufliegenden Magazine über Gott und die Welt informiert haben. Gut so. – Das Ungeheuerlichste: Fjodor Dostojewskijs Untergrundmensch führt das verbrecherische Ich … das in sich gebrochene Ich in lauter Hasstiraden vor, seine absurde Ambivalenz besteht darin, dass er einerseits das Ich (als Ichbewusstsein) abschmettert und für falsch, sogar für schuldhaft erklärt; dass er anderseits durch seinen unbezwingbaren Stolz auf sein Ich als Stütze angewiesen bleibt. Woraus sich ableiten ließe, dass der Mensch überhaupt, als Mängelwesen, eine Fehlkonstruktion ist. Aber wessen Fehlkonstruktion? – Ulla Unseld bekennt in einem TV-Interview ihre »Liebe« zu Schweizer Autoren, hochgemut tut sie kund, sie führe »eine wunderbare Korrespondenz mit dem großen Gerhard Meier, von dem Peter Handke einmal so wunderbar gesagt hat, er sei allein schon als Person eine wunderbare Erzählung«. Und dergleichen mehr. Woher kommt der großdeutsche Kult um schweizerische Autoren wie Robert Walser, Ludwig Hohl, Peter Bichsel oder eben Gerhard Meier, deren Hauptinteresse dem Kleinen, dem Unscheinbaren gilt und die das Schreiben als eine Art – eine Kunst! – des Verschwindens praktizieren? Des Verschwindens ihrer selbst wie auch der Literatur. – (Mit dem Rücken zum Feuer:) Es ist leichter, die Liebe zu lieben, als den Nächsten, obwohl doch beide, er wie sie, sterblich sind.

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