17. März

… oder dass die Prosa, Alltagsrede wie Erzählung, von der Poesie herkommt, von ihr abgeleitet ist, aus ihr fortentwickelt und differenziert wird als Informationsmedium. Prosa wäre demnach in diesem allgemeinen Verständnis zu bestimmen als Medium für die Übermittlung einer vorgegebenen Botschaft, während im Fall der Poesie das Medium selbst … die Sprache als solche zur Botschaft wird beziehungsweise als »Botschaft« fungieren kann. Je präziser und eindeutiger die Mitteilung gefasst ist (etwa als wissenschaftlicher Diskurs, als Gebrauchsanweisung, als Gesetzestext), desto weiter entfernt sie sich von der gewollten Mehrdeutigkeit poetischer Rede. Poetische Rede hat bei all ihrer semantischen Vagheit eine andere Art von Präzision – sie exponiert sich in ihrer sprachlichen Materialität, als Klangereignis, als das, was Schwarz auf Weiß dasteht und somit – anders als alles Gemeinte, Bedeutete – unverrückbar gegeben ist. Heute wird in der Sprache wie in der Kunst der natürliche, alltägliche, flüchtige, provisorische Ausdruck dem mehr oder minder streng formalisierten vorgezogen. Rhetorik, Stilistik, selbst Grammatik haben keine normative Funktion mehr, weder in gesprochener noch in geschriebener Alltagsrede. Die Sprachverluderung nimmt zu, findet auch zunehmend Akzeptanz und wird ihrerseits, gefördert durch aktuelle Textformate wie SMS, Twitter, Email oder Direktkommentare via Internet, normbildend – defekte, defizitäre, spielerische, dabei (für die Kommunikationsteilnehmer) stets verständliche Sprachform, die mit der Sprechform meist identisch ist; Abkürzungen, Auslassungen, fremdsprachige und jargoneske Versatzstücke; additive Aufreihungen statt Syntax mit über- oder untergeordneten Elementen und mit klarer zeitlicher Differenzierung; hybrides Sprachdesign mit Versatzstücken aus Alltagsrede, Trendwörtern, Werbesprache, Song- und Raptexten. Ich will diese Tendenz nicht bewerten, will sie schon gar nicht mit puristischem konservativem Anspruch verurteilen, frage mich aber … frage auch Sie als schreibende Kollegen, als Kritiker oder Juroren, als rare Lyrikleserinnen und -leser, ob es das Interesse und die Aufgabe der Poesie sein kann … sein sollte, den heruntergekommenen Status der Alltagssprache zu übernehmen, zu kultivieren und damit sekundär zu rechtfertigen: Plauderlyrik, Gebrauchslyrik, Verbrauchslyrik, Unterhaltungslyrik, Slamlyrik, Workshoplyrik, Tagebuchlyrik, Wettbewerbslyrik scheinen die Lyrikproduktion und den Lyrikbetrieb zu dominieren, und offenkundig bestimmen diese aktuellen lyrischen Sprechweisen sehr weitgehend auch die einschlägigen Rankings, Stipendien- und Preisvergaben. Jede Sprechweise hat ihren Grund und ihre Berechtigung, doch nicht jede ist gleichermaßen von künstlerischem Interesse, auch dann nicht, wenn sie durch strophische Gliederung und eklatante Endreime entsprechend formatiert wird; wie zum Beispiel hier (bei Ann Cotton/ Brentanopreis): SelbstwertDas Öl will lecken.
aaaaaDie Zunge will fauchen.
aaaaaDer Mensch will Öl
aaaaaund Zunge gebrauchen.
aaaaaDer Mensch leckt mit
aaaaader Zunge Öl.
aaaaaDas Öl erfand
aaaaadas Ehrgefühl. – Öl auf Öl zu reimen, ergibt einen klanglichen Nulleffekt, Öl auf –ühl ist schon etwas besser, taugt aber nicht mal als Sprachwitz. Das Gedicht wird hier nur einfach dazu genötigt, in unbedarfter Form eine unbedarfte Botschaft zu transportieren, die auch ohne Zeilensprünge vernehmbar wäre. Dass der Mensch »mit der Zunge« leckt, versteht sich eigentlich von selbst, da der Mensch außer der Zunge kein anderes Organ zum Lecken hat. Ich kann ›Selbstwert‹ als SMS zur Kenntnis nehmen und gleich wieder löschen, doch wieso und wozu sollte ich ihn als Gedicht goutieren? – Statt zu erklären, was ich selbst mache … statt zu begründen, warum und wozu ich es (das Gedicht) anders mache, rücke ich hier eine eigene Strophe ein: Schnee bis in die Nee…
aaaaabis in die Niederungen und also schön vergessen
aaaaawas man ungern weiß. Heißt anderseits – ein Sieg
aaaaaist das wohl nicht. Gewicht und Wolke fremdeln und
aaaaasind dennoch immer im Begriff. Ob Riff oder Klippe.
aaaaaOb Wipf oder Gipf. Die Ruhe hat ihren Ort tief oben
aaaaawo der Hauch auch für ein Du schon zu leicht ist.
aaaaaViel zu leicht für jeden Namen. Menschen sind in jener
aaaaaRegion das Rarste. Wo’s außer der Ruhe nichts
aaaaaBaldiges gibt. Nicht mal Hunger und auch keine
aaaaaandre Leidenschaft. Die Kraft bleibt ausgeschaltet. Ewigkeit
aaaaaund Augenblick sind nie nicht ineinander verschlauft.
aaaaaEin tristes Happy End zu dem der Anfang fehlt und
… – Mit diesem und andern Texten hab ich kürzlich in der Alten Schmiede eine kleine Testreihe absolvieren können. Es ist gut und tut gut, sich hin und wieder vor kundigem Publikum zu exponieren, erstaunlich nur und traurig auch, dass letztlich niemand vom Autor (von der Autorität) ablassen mag; dass kaum jemand auf Publikumsseite wirklich ernst genommen werden mag, sondern immer nur ernst nehmen will, was der dort … was in diesem Fall ich als Dichter zu sagen habe beziehungsweise zu verstehen gebe. Wo ich dem Leser, wie eben hier, Freiheiten einräume, seinen Eigensinn anrege oder diesen gar voraussetze; wo ich individuelle Sinngebung im Akt des Lesens oder Hinhörens höher ansetze als nachträgliches Verstehen, gelte ich als elitär, als schwierig und – allzu oft – als allzu schwierig. Ich bin nicht schwieriger … meine Gedichte sind nicht schwerer zu verstehen als andere, die leichter ankommen, nur operiere ich auf einer tieferen Ebene, nämlich auf der des Wörterbuchs, das sprachliches Rohmaterial aus allen Lebens- und Wissensbereichen und auch aus allen rhetorischen Registern bereithält, mithin sehr viel mehr als die Alltagssprache oder irgendwelche Fachsprachen. Das Wörterbuch ist gegenüber stilistischen, politischen, ethischen Kriterien völlig indifferent, es reiht den Wortbestand neutral in alphabetischer Abfolge auf, und es bleibt mir überlassen, welche Auswahl ich treffe und wie ich die ausgewählten Elemente aufeinander beziehe oder miteinander kontrastiere. Mein Gedicht ist ein Auszug aus dem Gesamtkunstwerk Sprache … ist ein von mir eigens arrangierter Auszug, der nun aber, als solcher, ein selbständiges Ganzes bildet. Dieses simple Verfahren plausibel zu machen, fällt mir schwerer, als eine Strophe wie die obige auszuschreiben. – Bin viel zu früh aufgewacht heute, aufgestanden um halb sechs – die Nacht steht rieselnd ums Haus. Was tun? Ich bin noch benommen von einem starken Traum, noch hat das Denken, das Erinnern, das Wollen nicht eingesetzt. Ich blättere beim Weißtee die ungelesenen Zeitungen von gestern … von vorgestern durch, sehe mir die neuen Verlagskataloge von Gallimard und Minuit an, verfalle darüber allerdings nicht in Begeisterung, vielmehr – zu meiner eigenen Verwunderung – in eine Art Putzfimmel, der mich zum Aufräumen animiert. Also schaufle ich die Asche aus dem Kamin, stelle die herumliegenden Bücher ins Regal zurück, gehe mit dem Staubwedel, dann mit dem Staubsauger durch die Wohnung, komme gegen halb acht beim Frühstückstisch an und kann nun sehen, wie sich der Tag am Fenstersims hochzieht. Für meinen Rundgang durch den Wald brauche ich diesmal die starken Schuhe, Regenhut und Regenmantel. Das Wetter ist stürmisch, die bleischweren Wolkenbänke verschieben und verzetteln sich unentwegt, kalte Schauer fegen durchs Gebüsch und Geäst, springen mich rücklings an wie Lufthunde, treiben verrottendes Laub vor mir her. Bis ich unversehens (auf dem Weg nach Bretonnières) aus dem Wald ins Freie trete, ins Helle – es ist, als würde plötzlich ein Theatervorhang hochgezogen vor einer grell ausgemalten Kulisse: Im Hintergrund der frisch eingeschneite Mont d’Or mit der strahlend weißen Kimme, darunter die mit Raureif übersprengten Rebhänge, noch weiter unten ein Tannenwäldchen in lichtem Lindengrün, dahinter bläulich schimmernd die Weiden und Felder und … und aber gleich ist alles verweht, die Farben wie weggewischt, die Sonne weggeschlossen hinter mächtigen Wolken, die sich, hin und her geschoben von den Oberwinden, kurzfristig an der Bergflanke aufhalten, bevor sie in riesigen Schwaden über die Kuppe abziehen und noch einmal … und schon wieder das klare, flach einfallende Morgenlicht einfallen lassen. Schöne Vorstellung! Aber – wirklich!

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