17. November

Bin zur Besprechung des gestrigen Vorfalls bei meiner Hausärztin, schildere die Symptome, die Halluzinationen; lasse mir Blut abnehmen, Puls und Blutdruck messen, die Bauchorgane abtasten, die Lungen stetoskopieren. Es ist nichts Auffallendes auszumachen, keine Therapie drängt sich auf, es gibt keinen Grund zur Sorge und … aber ich lag doch vor vierundzwanzig Stunden im Sterben! Wie gut kenne ich mich? Was weiß ich von mir? Wem gehört mein Schmerz, meine Angst? Wessen Krämpfe haben mich gequält? – Gibt es einen Tiefststand menschlicher Niedertracht? Seitdem ich, um mein ärmliches Schullatein und Griechisch aufzufrischen, wieder häufiger bei den alten Griechen und Römern zugange bin, lasse ich mich immer wieder frappieren von der unmittelbaren Nachbarschaft – oder soll ich sagen: von der Synchronizität? gar von der Versöhnung? – höchster Tugendhaftigkeit und äußerster Barbarei. Da werden ganze Clans abgeschlachtet, Verbrecher und Andersdenkende gefoltert, vor neugierigem Publikum aufs Fürchterlichste hingerichtet oder irgendwo im Ödland mit einer verrottenden Leiche zusammengebunden, an deren Seite sie dann im Verwesungsgestank verhungern sollen. Usf. Während gleichzeitig in hohem Stil und mit hoher Intelligenz das »gute Leben« gepredigt wird – eine Lehre (ich lese Epiktet, Epikur, Cicero, Marc Aurel), die ihre Relevanz und Dringlichkeit bis heute nicht verloren hat. Heute! Wenn ich heute die anhaltenden interdisziplinären und transnationalen Debatten über Menschenrechte, Gleichstellung, politische Korrektheit usf. zur Kenntnis nehme und gleichzeitig in Echtzeit mitverfolge, wie all diese Rechte und Korrektheiten – wo auch immer auf der Welt – mit Springerstiefeln getreten, mit Mordwerkzeugen aller Art konterkariert oder von ferngesteuerten Drohnen stillschweigend außer Kraft gesetzt werden, frage ich mich hin und wieder nach dem Fortschritt, den »wir« hienieden in den vergangenen zweieinhalbtausend Jahren hinter uns gebracht haben. Und wenn ich (ausgerechnet in »Kulturzeit« auf 3sat) von einer neuen Praxis des Menschenhandels erfahre, der sogenannten berberischen Geiselnahme, frage ich mich darüber hinaus, wie tief »wir« denn überhaupt noch sinken können, bei all den Aufklärungen, die uns zuteil geworden sind. Von bezahlten Entführern werden auf Anweisung berberischer Auftraggeber Kinder, Frauen, engere Verwandte wohlhabender Familien in Foltercamps verschleppt, von wo aus sie – während ihnen Glieder abgesägt, Augen ausgestochen oder Organe herausgerissen werden – mit ihren Verwandten telefonieren und den Preis nennen müssen, der zu bezahlen ist, damit die Folter eingestellt wird. Das alles muss sehr schnell vonstatten gehn, doch in vielen Fällen ist das Geld nicht oder nur auf Umwegen zu beschaffen, so dass den Opfern Glied um Glied abgetrennt und dabei der Preis für die Entlassung in die Höhe getrieben wird. Gezeigt wird ein aus Tunesien entführter Publizist, der neun Monate in einem derartigen Wüstencamp verbracht, dem man beide Hände abgehackt, eine Lunge, eine Niere entfernt hat (die dann an einen Organhändlerring verkauft worden sein soll) – der Mann hat sich weder politisch noch religiös exponiert, stammt aber aus reichem Haus und wurde nur deshalb – wie alle andern Entführten auch – als Folteropfer ausgewählt. Wie … wo lässt sich ein solches Schicksal einordnen? Der Betroffene ist ja nicht einmal als Person gemeint, wird nur als Spielfigur eingesetzt und dabei schlimmer als irgendein Schlachtvieh behandelt. Die Bedeutung des Vorgangs ist unter ökonomischem Gesichtspunkt leicht zu erfassen; um seinen Sinn zu begreifen, gibt es wohl in keiner Sprache auch nur ein passendes Wort und sicherlich gibt es keine ethischen Kriterien, die dafür taugen könnten. Doch faktisch ist es so, dass Menschen gegenüber Menschen zu solcher Niedertracht in der Tat fähig und bereit sind. Jeweils um vier Uhr nachmittags, so berichtet ein Reporter, der mit einem überlebenden Opfer hat sprechen können, treffen sich die Folterer unterm Baldachin zum Tee, um »über das weitere Vorgehen« zu plaudern, während in den glutheißen Boxen die Entführten mit schon nicht mehr menschlicher Stimme herumbrüllen oder auch bloß noch wimmern. – Lesung aus ›Alias oder Das wahre Leben‹ im ehemaligen Berner Schlachthof – der Saal ist voll, das Publikum auffallend jung, manche der Frauen ebenso auffallend overdressed, aufwendig geschminkt und frisiert usf. Bin ich am richtigen Ort? Wer hat sich da in wem getäuscht? Erst als ich beim Vortragen die zunehmende Aufmerksamkeit und Spannung wahrnehme, bin ich mir einigermaßen sicher, dass ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort bin. Usf. Nach der Lesung kommt ein sehr gut aussehender, dennoch hochsympathischer, vielleicht dreißigjähriger Mann zum Büchertisch – er legt mir meinen zerlesenen Roman vor und bittet um eine Signatur. Wir kommen kurz ins Gespräch. Er habe, sagt der Mann, mit besonderem Interesse die exakt geschilderten Kriegsszenen gelesen, aber auch die Überlegungen, die der Held der Geschichte in Bezug auf das Kriegserleben anstellt – die geschärfte sinnliche Wahrnehmung im Kampfgebiet, der ständige Alarmzustand, die plötzlich lebenswichtige Bedeutung von beiläufigen Geräuschen oder Bewegungen, die Beschränkung der Lebensbedürfnisse auf ein Minimum und die daraus zu gewinnende Energie und Luzidität usf. Tatsächlich, ja, darüber gibt’s in meinem Buch ein paar dichte Seiten. Und? Jetzt outet sich der aufmerksame Leser als professioneller Pokerspieler, er sei weltweit unterwegs von Turnier zu Turnier, spiele auch im Internet, habe sehr viel Geld damit verdient und sei weiterhin dabei, seine Technik zu verfeinern. Dazu gehöre eben genau das, was im Roman beschrieben werde – die permanente schwebende Aufmerksamkeit, das Achten auf die Körpersprache der jeweiligen Gegner, auf Veränderungen der Hautfarbe, auf den Rhythmus des Atmens, auf den am Hals sichtbaren Puls, auf geringste Spuren von Schweiß an Händen und Schläfen, auf leise Schnalz- oder Pfeiftöne, auf unmerkliches Scharren mit den Füssen und, falls keine schwarze Brille getragen wird, auf die Bewegungen der Pupillen. Für mich ist der Vergleich einer Pokerrunde mit einer Kampfeinheit im Einsatz völlig neu und auch durchaus erhellend. Dass dieser junge Mann aber zu meiner Lesung kommt, weil er im Roman gleichsam die existentielle … die zum Tod hin offene Spielart des Pokerturniers entdeckt zu haben glaubt, ist das wohl ungewöhnlichste Feedback, das mich als Schriftsteller bisher erreicht hat. – Die Gabe sagt mehr aus über den Geber als über den Begabten; ich gebe … ich schenke nie nicht unter Berücksichtigung (des Geschmacks, eines Wunsches) des zu Beschenkenden. Meinen Verwandten und auch manchen Kollegen gefällt nur das, was als gediegener Kitsch durchgeht, und also bekommen sie von mir entsprechende Glückwunschkarten und Geschenke überreicht. Ich treffe meistens ins Schwarze, werde aber meinerseits in aller Regel in einer Weise beglückt, die meinen Geschmack und meine Erwartung zutiefst kränkt. Denn andere gehen unkritisch und selbstbewusst davon aus, dass ihr Geschmack der einzig richtige, nämlich der mehrheitliche, also der »normale« ist und somit jedermann entsprechen kann. Auch mir. Werch ein Illtum! Und eigentlich doch eine Beleidigung. – Noch ein Rasertraum. Ich fahre mit hoher … mit weit überhöhter Geschwindigkeit in eine unbeleuchtete Tunnelröhre, rechts neben mir befindet sich gleichauf ein anderes Fahrzeug, das ich eben überholen will. Es ist ein unerbetener Wegbereiter, ein unversöhnter Gegner. Der Tunnel ist niedrig und eng, ich versuche den Abstand links zur Tunnelwand und rechts zum andern Auto genau einzuschätzen, verrechne mich dabei, komme zunächst leicht, dann immer schlimmer ins Schleudern, und noch schlimmer würde es, wenn ich nun den Schleuderkurs auch noch durch Bremsen und Gegensteuern unter Kontrolle bringen wollte. Geht nicht. Bringt nichts. Denn wie in einem riesigen Beschleuniger werde ich und wird auch der Wagen meines Verfolgers durch die spiralförmig nach unten sich windende Röhre fortgerissen ins Licht.

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