18. März

Nun also wieder die jurassische Provinz! Nach längeren Absenzen … nach Aufenthalten im Ausland … in Großstädten wie Köln, Berlin, München kann ich die hiesige Abgeschiedenheit durchaus genießen, fühle mich umfriedet von den Restbeständen der cluniazensischen Hochkultur, die in dieser unwirtlichen Kuhle einen starken Ableger hinterlassen hat – ein weitläufiges Ensemble mit Abteikirche, Mönchshaus, Mühle, Kanälen, geschützt durch frühere Festungsanlagen und ergänzt durch spätere, hochmittelalterliche Zivilbauten. Eindrückliche Kulissen, gewiss, aber mit der Geistlichkeit ist aus dem einstigen Klosterbezirk auch der Geist ausgezogen, und nachgekommen ist ein finsterer Menschenschlag, der nun von den Rändern her angereichert wird durch einzelgängerische Zuzügler, zu denen (nebst einem Astrologen, drei Heilpraktikerinnen, einem Töpfer, zwei Weberinnen, einer Fußpflegerin, einem Geigenbauer, einem Kunstschmied und einem Tierfotografen) seit fünfzehn Jahren auch ich gehöre – ich habe hier ein Heim gefunden, keine Heimat. Und nun erwarten mich nach der Rückkehr von der Lesereise manche Pendenzen, darunter zwei relativ dringliche publizistische Aufträge, die Korrekturen zu Boris Vildés Gefängnistagebuch und – wie lange schon? wie lange noch? – die Notate zum Meraner Lyrikdiskurs. Für ›Volltext‹ bereite ich, auf eigene Initiative, eine Selbstanzeige zu ›Alias oder Das wahre Leben‹ vor, mit der ich einige von der Kritik übersehene textinterne Zusammenhänge (darunter den Einsatz und die Vernetzung von Orts- und Eigennamen) erhellen möchte, aber doch nur so weit, dass das bewusst uneindeutige Verhältnis zwischen Autor und Erzähler … zwischen Autor und Protagonist ebenso im Ungewissen bleibt wie das Wechselspiel zwischen historischer Realität und literarischer Fiktion. Dass ich mit ›Alias‹ die Nomination zum Schweizer Buchpreis nicht überstanden und damit die Schande, ausgezeichnet zu werden, vermieden habe, ist völlig in Ordnung angesichts der chaotischen Querelen und Provinzpossen, von denen die Verleihung der viel zu hoch dotierten Auszeichnung begleitet war. Auch die Reaktion des Preisträgers auf dem Podium – »Uhuuuu! Jetzt bin ich berühmt!« – war durchaus in Ordnung und hat mir noch deutlicher werden lassen, dass meine Nomination ein Missverständnis gewesen sein muss. – Aber ohnehin rüste ich ab. Mein nächster Roman wird mein letzter gewesen sein, eine verkappte Wunschautobiografie am Leitfaden von Leben und Werk des Grafen Jan Nepomucen Potocki; vielleicht reicht’s dann noch für einen Gedichtband, ein Sachbuch. Schon jetzt gehört allerdings ein Großteil meiner Restlebenszeit der Lektüre, vorzugsweise den fernen Alten; bin gegenwärtig wieder bei Lukrez und Hesiod zugange, gerne bei Ovid, zum x-ten Mal bei Boetius (und La Boétie), fast täglich in gedanklichem Dialog mit Stéphane Mallarmé. Eigentlich sollte … eigentlich dürfte in meinem Alter zum Lesen nur das Beste gut genug sein, und es gibt davon – auch bei strengster Auswahl – soviel, dass kein noch so großzügig bemessenes Leben dafür ausreicht. Jeder kann … jeder könnte sich mit diesem Reichtum unentgeltlich eindecken, der Internetzugang eröffnet den Weg und die Möglichkeit dazu. Fragt sich bloß, was mich betrifft, ob ich mir – wie in meinen Pionierzeiten als jugendlicher Vielleser – jemals wieder die Lektüre einfach gefallen lassen kann, ohne über das Gelesene gleich auch schreiben zu wollen … ohne sie immer schon auf das Schreiben ausgerichtet zu haben. Als Variante dazu könnte ich mir für meine noch späteren Jahre vorstellen, meine Lieblingstexte … die Texte, die mich am tiefsten geprägt und mir am meisten gesagt haben, abzuschreiben. – Auf der Startseite von Swisscom finden sich heute zwei Interviews, das eine im Ressort »Sport«, das andere bei der »Unterhaltung«. In beiden Fällen geht es um Karriere, Erfolg, Nachruhm: »Sie arbeiten hart, um erfolgreich zu bleiben. Sie müssen auf starke Konkurrenz reagieren und sich von ihr absetzen. Woher nehmen Sie die Motivation, sich ständig diesem Stress auszusetzen? Ständig präsent zu sein? Und denken Sie eigentlich daran, ob man sich in zwanzig, dreißig Jahren noch an Sie erinnern wird?« Diese und ähnliche Fragen werden, fast gleichlautend, aber unabhängig voneinander, einem Spitzensportler und einem Popstar gestellt. Beide sagen, wiederum fast gleichlautend: »So ist es eben. Es geht nicht anders. Man macht, was man kann. Man bemüht sich, man will der Beste sein, vielleicht ist man’s auch. Doch darauf kommt es nicht an. Es kommt darauf an, ob man mitgenommen wird, ob man im richtigen Moment am richtigen Ort abgeholt wird. Allein schaffst du’s nicht. Der Beste zu sein, genügt nicht. Gerade die Besten bleiben oft auf der Strecke. Der Erfolg gehört ganz einfach denen, die Glück haben. Dazu kann man nicht allzu viel beitragen. Klar, du musst dranbleiben. Aber davon abgesehen, muss ganz einfach alles passen, und immer muss eine Mehrheit mitgehen, dich mittragen. Nur auf diese Mehrheit kommt es letztlich an. Da kannst du proben und trainieren, soviel du willst. Nicht du hast den Erfolg, der Erfolg hat dich. Deshalb bleiben die wirklich Besten manchmal außen vor. Und je mehr Fans du auf deiner Seite hast, desto länger wird man sich an dich erinnern.« So auch in der Kunst: Man überlege kurz, wer den Literaturnobelpreis nicht bekommen hat; es sind die Besten. – Meine erste Theatererfahrung – ich machte sie mit ungefähr zehn Jahren und habe auch schon mal darüber berichtet – ist für mich zum Schockerlebnis geworden. Eine Laienaufführung im Waldhaus Lange Erlen außerhalb Basels. Dargeboten wurde eine Bühnenfassung von Anton Tschechows ›Nutzen des Tabaks‹. Als Kulisse hatte man ein spießiges Interieur aufgebaut, mit Hirschgeweih und Jagdgewehr an der Wand. Ein paar Leute hocken um den Tisch herum, quasseln, schreien sich an, biegen sich vor Lachen – unter ihnen eine alte Frau, die von einer jungen Frau gespielt wird: graues Gesicht, grau gepudertes Haar, graue Schürze, graue Strümpfe über auffallend schön geformten Beinen. In der Aufregung stößt die graue Tante irgendwann im Handlungsverlauf mit dem Ellenbogen das Teeglas von der Tischkante, das Glas saust (keine Überraschung) zu Boden und zerspringt (sehr wohl eine Überraschung) in Scherben. Der Schock bestand für mich darin, dass das Glas ein richtiges Glas war und tatsächlich nun kaputt auf der Bühne lag – ist also Theater bloß eine Spielart der Wirklichkeit? Sind die Schauspieler wirkliche Menschen, die Requisiten wirkliche Gegenstände? Ich erinnere mich, ich war nicht nur schockiert, ich war auch enttäuscht – mir fehlte die Künstlichkeit des Theaters … mir fehlte der Unterschied (die Unterscheidung) zwischen der Bühne dort und meinem Leben hier.

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