18. Oktober

Rapider Temperatursturz von zwanzig auf sieben, acht Grad, über Nacht kam kalter Regen dazu, heute dominiert die Migräne meinen Körperhaushalt, obwohl ich sie schon seit Stunden mit Medikamenten, kaltem Wasser, frischer Luft, Kraft- und Entspannungsübungen aufzuhalten versuche. – Im Wald stoße ich überraschend auf einen Jäger, der auf einem Klappsitz am Wegrand hockt, den ich aber wegen seiner Tarnkleidung erst im letzten Augenblick bemerke. Neben sich hat er seine Krücken abgelegt, auf den Knien hält er eine schwere Doppelflinte. Reglos starrt der Mann, mit dem Rücken zum Gehweg, in den Wald, er scheint mich nicht zu bemerken. Vorsichtig nähere ich mich ihm von hinten, blicke ihm über die Schulter, sehe auf seiner Schuhspitze ein eingerolltes verdorrtes Eichenblatt, das wie eine Muschel geformt ist – ein paar auffallend große Tautropfen glitzern in der graubraunen Höhlung, sieht aus wie eine Handvoll winziger Augen, die nun zu mir nach oben blicken. Noch bevor sich der Jäger nach mir umwendet, bin ich entdeckt. – Schon mehrmals hat mich der Versicherungsvertreter angerufen wegen eines Gesprächstermins, nun schlägt er Mittwoch vor, um halb elf in der Brasserie Acedia. Für mich ist das im Prinzip machbar, aber ich muss erst noch abklären, ob ich mein Seminar dem Pflüger überlassen kann, ob der Pflüger Zeit hat usf. Ich werde also später nochmals anrufen, tagsüber bin ich an der Universität, halte mein Proseminar ab, suche nun die Mensa auf und stelle fest, dass bereits alle Plätze besetzt sind. An einem runden Tischchen sitzt Nicolas Cornaz, er wartet, scheint sich zu wünschen, dass ich mich zu ihm setze. Ich winke ihm bestätigend zu, muss aber vorab die Frage mit dem Termin klären. Dazu brauche ich das Vorlesungsverzeichnis, um nachzusehn, wann der Pflüger wo eingesetzt ist. An der Bar liegt ein abgegriffenes Exemplar auf, ich stelle aber schnell fest, dass ich damit nicht zurechtkomme – es gibt kein Namen- und kein Themenregister, offenbar hat man eine neue Studienordnung und eine neue Semesteraufteilung eingeführt. Alles ist in Form von Diagrammen dargestellt, die ich nur leider nicht interpretieren kann. Ich bitte eine Studentin um Hilfe, weiß nun aber plötzlich nicht mehr, ob der Pflüger tatsächlich Pflüger heißt oder nicht vielleicht Flüger oder Gflüger. Ah! meint die Studentin, wird plötzlich hübsch und wirft ihr üppiges Haar über die Schulter zurück: Ein G-Anlaut! Ich hab die Gutturalen, flüstert sie mir zu, schon immer gemocht! Doch auch gemeinsam fahnden wir vergeblich nach dem Gflüger. Die Unbekannte ist enttäuscht, ich geh zur Bar hinüber, lege das Verzeichnis zurück, bestelle ein Eis. Das Eis ist wie ein Blumenstrauß in Buntpapier eingerollt, und als ich’s endlich ausgepackt habe, sitzt statt Cornaz die Kassiererin an jenem Tisch. Die Frau erwartet mich lamentierend, drückt dabei eine weiß behandschuhte Hand auf den Mund, zwischen ihren Fingern sehe ich ein großes Loch in der untern Zahnreihe. Kaum habe ich mich zu ihr gesetzt, steht sie auf, sagt: Ich bin gleich zurück! Und … aber ich? Weiß noch immer nicht, wie ich’s mit dem Termin von morgen halten soll. Unterrichten oder versichern? Gflüger oder ich? Phonetik oder Pataphysik? Nicolas stürmt grußlos vorbei, rempelt mit der Schulter die Kassiererin an, die nun gleich wieder zu lamentieren beginnt und laut nach Gflüger ruft, obwohl der bereits hinter ihr steht und über ihre Schulter kopfschüttelnd an mir vorbeischaut. – Mitternacht ist vorbei, ich habe mehr als eine Stunde auf Krys eingeredet, nur um mich wieder einmal in der ersten Person Einzahl zu erklären. Ich vermute, dass mein ziemlich hektischer und unorganisierter Monolog eine spontane Kompensation für meine derzeitige Sprachstutzigkeit war – es gibt für mich in diesem nahezu menschenleeren Abseits oft tagelang keine andere Gesprächsmöglichkeit als die Selbstbezichtigung oder die Weltbeschimpfung oder die Vergeblichkeitsklage. Zum Schluss vereinbaren wir noch auf gut Glück einen »gelegentlichen« Besuch der Ausstellung von Markus Raetz im Basler Kupferstichkabinett. – Das soll gestern ein Temperaturrekord gewesen sein – neunundzwanzig Grad im späten Oktober! Der höchste jemals in diesem Monat registrierte Wert seit Messungsbeginn vor ungefähr einhundertfünfzig Jahren. Also sehe ich vielleicht doch richtig … also täusche ich mich vielleicht doch nicht, wenn ich im schütteren, rostig verfärbten Laubwerk des Alleebaums vor meinem Fenster einen Papagei zu sehen glaube? Brille ab, Brille auf – es muss ein Papagei sein, vermutlich ein hier in der Gegend entflogenes Exemplar. Aber nein, eine Nachbarin, die den fremden Vogel ebenfalls (schon mehrfach) beobachtet und die Beobachtung dem Zoo gemeldet hat, weiß es besser: Bei dem Papagei handelt es sich um eine Goldkopfamazone, die zu einer Population von etwa dreißig Tieren hier am Zürichberg gehört, eine – man hat das Staunen noch nicht ganz verlernt – exotische Vogelart, die sich dank Klimaerwärmung bei uns bereits ein wenig eingelebt, sich angepasst, hier genistet, sogar sich fortgepflanzt und offenbar auch geeignete Überwinterungsnischen ausfindig gemacht hat. Willkommen zu Hause. – Am Bahnhof in Frankfurt/Main erwartet mich, winterlich gekleidet, Andreas Rötzer, der Verleger von MSB. Mit der U-Bahn fahren wir zur Buchmesse. Im mörderischen Lärm des rüttelnden und klappernden Waggons versuchen wir uns ein wenig zu unterhalten, uns ein wenig zu freuen über den Erfolg meines Romans ›Alias oder Das wahre Leben‹, der neuerdings für den Schweizer Buchpreis nominiert ist. Folgt ein Gang durch die dicht bevölkerten Gassen zwischen den Verlagskojen, alle Wände sind mit Büchern zugemauert und mit Plakaten tapeziert, und ich verfalle hier rasch in katastrophische Platzangst. Fühle mich vom Gedränge all dieser hastenden und grapschenden Zeitgenossen, in denen ich auch mit dem besten Willen keine Leser zu erkennen vermag, hilflos hingerissen. Bei MSB gibt es nebst aufmunternden Worten ein Glas Wasser, doch bevor ich irgendetwas zu sehen, zu fassen bekomme, muss ich schon weiter zur Lesung beim SBVV, wo mein Auftritt angekündigt ist. Die Moderatorin fällt »aus privaten Gründen« aus, ein Ersatzmann, der den Roman nicht gelesen hat, bemüht sich redlich um ein Podiumsgespräch über mein Buch hinweg und dran vorbei, danach lässt er mich ein paar Seiten lesen, während um das offene Podium herum die Messebesucher sich drängen, sich unterhalten, sich verpflegen, in Prospekten blättern. Statt den Lärm in der weiträumigen Halle übertönen zu wollen, nehme ich die Stimme zurück und gewinne dadurch fühlbar an Aufmerksamkeit. Ich konzentriere mich nicht auf den Erzählstoff, sondern auf das Erzählen, wähle eine Intonation, die dem Publikum vermitteln soll, dass hier nicht bloß vor- oder abgelesen, sondern gleichsam aus dem Stand erzählt wird. Nach der Lesung beeile ich mich, ins Freie zu kommen, der Lektor begleitet mich auf einem Spaziergang durch die Innenstadt, wir tauschen Leseerfahrungen aus, reden über literarische Trends und Autoren und kommen dabei ins Planen und Fantasieren. Wenn wir auch nur einen minimalen Teil davon in Bücher umsetzen können, wird es für die nächsten Jahre sehr viel Arbeit geben. Mit dem Planen ist es in meinem Alter so eine Sache. Zeit und Energie sind beschränkt, derweil sich Interessen und Ideen keiner Einschränkung unterwerfen. Nicht bei mir. Fragt sich aber doch, was man sich … was ich mir sinnvollerweise noch vornehmen, zumuten, abverlangen sollte. Versäumtes nachholen? Verfehltes richtigstellen? Aufgeschobenes an die Hand nehmen? Aktuelles aufgreifen? Neues anfangen? Oder einfach – letzte Variante – abbrechen, abtreten! – Gegen Mittag Anruf von Frau Mutter, die mir eigentlich nur mitteilen will, dass sie am Sterben ist und dass sie sich ja auch gar nichts anderes mehr wünscht. Dass ich gleich zu ihr nach B. fahren möchte, findet sie unnötig; sie werde, sagt sie, später am Tag wieder berichten. Am frühen Abend ruft sie wieder an, sie ist heiter und müde, stellt liebevoll Fragen, gibt freundlich Auskunft, muss dann aber das Gespräch abbrechen, da sie unbedingt den heutigen Pilcherfilm im TV sehen will.

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