19. Dezember

Auf TV-Mezzo wird Alfred Brendels Abschiedskonzert in Wien nach sechzigjähriger Konzerttätigkeit als Wiederholung gesendet. Auf dem Programm stehen Bach, Mozart, Schubert; die Ovationen des Publikums wollen, nach seriös getaner Arbeit, nicht enden. Fragt sich aber doch … jedenfalls ich als Laie frage mich, weshalb keiner der großen Pianisten des 20. Jahrhunderts – kein einziger! – als Vermittler zeitgenössischer Musik angetreten ist. Eine vergleichbar reaktionäre Haltung ist in keinem andern Kunstbereich zu beobachten. Man denke an das Theater der europäischen Moderne und stelle sich vor, die herausragenden Schauspieler der Epoche wären ausschließlich in Bühnenstücken des 19. und 18. Jahrhunderts aufgetreten und hätten die gesamte dramatische Literatur ab Jugendstil und Expressionismus bis hin zu Sartre, Dürrenmatt, Pinter und vielen andern mehr außer Acht gelassen. Die Missachtung der musikalischen Moderne durch so viele führende Interpreten, vor allem im Klavierbereich, ist sicherlich ein gewichtiger Grund dafür, dass es für neue Musik beim breiteren Publikum noch immer keine »stehenden Ovationen« gibt – selbst die stillschweigende Akzeptanz solcher Musik steht nach wie vor aus. Weshalb denn also konnten, im Unterschied zur Musik, die nicht weniger radikalen Neuerungen der modernen Bild- und Sprachkunst historisch integriert und adäquat rezipiert werden? Ist das Ohr ein konservatives Organ? Das Gehör auf Wiederholung und Gewöhnung angelegt? Melos ein anthropologisches Bedürfnis? – Viel an ›Alias‹ gearbeitet, aber zu viel darüber nachgedacht; ich lasse beim Schreiben viel zu viele spontan sich einstellende Ideen, Assoziationen, Reminiszenzen zu und integriere sie … und versuche sie in den jeweiligen Kontext zu integrieren, was den zentralen Erzählstrang bisweilen von der gewünschten Richtung abbringt, wenn nicht gar zum Ausfransen bringt. vor allem muss ich darauf achten, das Motiv und die Haltung der Gleichgültigkeit durchweg präsent zu halten – jeder Täter ist auch Opfer; jedes Opfer kann auch Täter sein; das Glück kann sich als Horror erweisen, ein Sieg – als Niederlage, ein wahres Wort – als Lüge, eine Lüge – als Offenbarung usf. – Fotokarte von Krys aus Ornans mit Gustave Courbets ›Ursprung der Welt‹; auf der Rückseite die liebevolle Notiz: »Ein Mund, der schweigt! Ein Schrei, der will! Und … aber noch kein Kerl, der diesen Wald zum Wandern und zum Rauschen bringt? Herzlich!« – Statt am Roman zu arbeiten, lasse ich mich schon wieder zu ausschweifenden Lektüren hinreißen. Kehre wieder einmal bei Alain ein, der über alles und noch viel mehr – Mut, Regenschirm, Migräne, Comte, Wellness, Freitod, Nachtmusik, Angst, Traum – so zupackend und gleichzeitig so beiläufig schreiben kann (beiläufig zupackend!), dass man seine Worte, Ideen und Gegenstände fast physisch zu fassen … physisch zu spüren bekommt. Und? Arthur Schopenhauers ›Senilia‹ – zynisch, kleinlaut, grandios, dreist, einfühlsam, überspitzt, trivial und durchweg auf unterhaltsame Weise interessant. Die souveräne Polemik gegen die Schul- und Universitätsphilosophie als »Antagonist der wirklichen (Philosophie)« scheint unmittelbar überzuleiten zu Lew Schestows pauschaler Abrechnung mit Athen und generell mit dem sogenannten abendländischen Denken, das in kunstvollen Begriffskathedralen die »Wahrheit« behaupte und damit nicht nur den »Glauben« ins Unrecht setze, sondern auch das »Leben« mit Gewalt begradige. Von Schopenhauer hätte Schestow manch ein Diktum unverändert übernehmen und doppelt unterstreichen können; zum Beispiel dieses: »Die wirkliche, positive Lösung des Räthsels unsers Daseyns muss etwas seyn, das der menschliche Intellekt zu fassen und zu denken völlig unfähig ist; so dass, wenn ein Wesen höherer Art käme und sich alle Mühe gäbe, es uns beizubringen wir von seinen Eröffnungen durchaus nichts würden verstehn können, denn die Lösung wäre transcendent, während der Intellekt immanent ist.« Doch die Schopenhauerschen ›Senilia‹ konnten dem russischen Philosophen nicht bekannt sein. Und weiter? Ja – noch einige der quasidokumentarischen Geschichten von Alexander Kluge, der als Denker wie als Schriftsteller nur ausnahmsweise übers Mittelland hinausgelangt, bei dem sich aber, gleichsam aus der Froschperspektive, immer wieder staunenswerte Perspektiven auftun – was möglicherweise seinem Kamerablick zu verdanken ist. Kluge also; und wer … und was noch? Immer noch mehr von Gracq, Thomas, Michon – hier wird ernst gemacht mit der Flaubert’schen Versuchsanordnung zu einem »Buch über nichts«; man liest … ich lese über Dutzende von Seiten hin französische Prosa von höchstem Rang, lasse mich faszinieren vom Bau der Sätze, von der Detailschärfe der Bilder, nicht zuletzt auch – besonders bei Henri Thomas – von einem Erzählstil, in dem sich Ungeschlachtheit und Eleganz zu einer unverwechselbaren Intonation verbinden. Bei der Lektüre dieser und ähnlicher Texte beobachte ich im Übrigen ein durchaus merkwürdiges … ein des Merkens würdiges Phänomen, nämlich … dass ich trotz angestrengter Konzentration so gut wie nichts behalten … dass ich das Gelesene nicht memorieren kann. Der Akt des Lesens überbietet und verdrängt das Gelesene. Das, was dasteht, blendet aus, was dahintersteht. Struktur und Komposition der einzelnen Sätze und Absätze gewinnen beim Lesen eine rhythmische Intensität, die Inhaltliches und Signifikantes fast vergessen lässt. Der Nachteil solcher Lektüre besteht darin, dass sie nicht das Werk als ein Ganzes erfasst und das Gelesene nicht als Stoff oder Plot festzuhalten vermag; der Vorteil wiederum ist – jedenfalls nach meiner Erfahrung – der, dass man die Texte in beliebigen Portionen und in mehrfacher Wiederholung lesen kann, ohne dass sie an Interesse oder Wirkung verlieren. – Wie konnte ich das bis heute übersehen! Dass in meinem Namen – Felix – das Exil buchstäblich und vollständig mitgegeben ist; weit abgeschlagen bleibt derweil »das Glück«. F im Exil. – Ein paar Lieblingswörter (im Zug auf dem Knie notiert): Markt Ramsch Rast (rast) Star (starr) Barsch Fahrt Haar Grad Grat Ast Bart Draht Takt Schar Krach – stets derselbe Vokal, umstellt von wechselnden Konsonanten. Abgesehen davon, dass die durchweg einsilbigen Begriffe so vielfältig differenzierte Klangereignisse mit sich bringen, lässt sich beobachten, wie weitgehend ihre lexikalische Bedeutung von den Konsonanten getragen wird – aus Brt oder Mrkt auf »Bart« und »Markt« zu schließen ist ein Leichtes, während der Selbstlaut »a«, für sich genommen, weder auf »Bart« noch auf »Markt« verweist und auch keine eigene Bedeutung hergibt, es sei denn als unartikulierter Ausruf »ah!«.

2 Antworten : 19. Dezember”

  1. o. n. sagt:

    mit bangem blick auf den jahreskalender zähle ich die verbleibenden tage des buchs von herrn ingold, leider bin ich selber zu spät eingestiegen, aber es wurde mir zur lieben, vergnüglichen gewohnheit hier mitzulesen… soll das nun bald zu ende sein? 🙁
    ich hoffe, dass hier am lyrischen firnament schon an einer alternative fürs neujahr oder einer neuauflage gewerkelt wird – beides wäre schön!
    danke!
    otto s mops

    • Redaktion sagt:

      … Das Leben & Werk von Felix Philipp Ingold wird auf der Seitenleiste von planetlyrik.de 2016 erneut beginnen (HEUTE, GESTERN, VORGESTERN ist ja irgendwie immer) und ein anderes Feature aus Felix Philipp Ingolds „Freie Hand“ wird den Platz dann einnehmen. Auf 22 Startpositionen kann man sich einen Artikel aus den 510 Beiträgen der „kritischen, poetischen und privaten Wälder“ des Autors, immer wieder neu durchmischt, erklicken.

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