19. Juni

Auf dem Höhepunkt der zypriotischen Finanzkrise – die Hilfspakete der EU sind geschnürt und stehen zur Übermittlung bereit – stellt sich nun heraus, dass der Kleinstaat nicht bloß fünf, sondern sieben Milliarden EUR benötigt, um den Bankrott zu vermeiden. Grund dafür ist ein Versehen – man hat auf Seite Zyperns an einer entscheidenden Stelle der Hochrechnung brutto mit netto verwechselt; so wie vor Jahresfrist bei einer Münchner Großbank (die ebenfalls »gerettet« werden sollte) im Abrechnungsprozess plus und minus verwechselt wurden – damals ging es allerdings bloß um einen zweistelligen Millionenbetrag. Versehen dieser Art häufen sich … sie scheinen inzwischen häufiger aufzutreten als zu den guten alten Zeiten, da man noch mit dem Zählrahmen oder mit dem Kopf rechnete. – Der ganze »erhabene Unsinn« meiner literarischen Arbeit läuft letztlich darauf hinaus, die Lektüre zu einer Art Produktionskunst zu machen, den Leser in die Pflicht und Verantwortung dafür zu nehmen, was er mit meinem Angebot – ob Gedicht oder Roman – anfängt. Ich sage mir (und Krys bestätigt es): »Die Erschöpfung von dem lebensrettenden Schreiben, des Alleinseins bittere Seite sprechen durchs Fenster, indes die Tür fest verriegelt bleibt.« Wer oder was da – von außen – durchs Fenster hereinspricht, ist demnach »die Erschöpfung…« einerseits, die »bittere Seite…« anderseits. – Meine Erschöpfung ist zur Zeit allerdings (wie ja fast immer) so ausgeprägt, dass sie keine Worte mehr hat beziehungsweise dass es dafür keine Worte mehr gibt. Wenn ich allzu lang nicht mehr zum Schreiben kam, so deshalb, weil meine Probleme (wozu das Alleinsein nicht gehört) in einer Weise überhand genommen, sich Nachdruck verschafft haben in den vergangenen zwei Monaten, dass ich sie als ein Brüllen durchs Fenster wahrnehmen und ertragen musste. – Zusammen mit dem Dirigenten, dem Regisseur, dem Küchenchef, dem Chefarzt, dem Cheftrainer und dem Modefotografen gehört der Verleger – ich folge Elias Canettis Typologie des Machtmenschen – zu jenen minderen Despoten, deren Untertanen sich in aller Regel freiwillig in die Abhängigkeit begeben und eben dafür verachtet und missbraucht werden. – Loyalität gilt als eine demokratische … als eine bürgerliche Grundtugend; ich halte Loyalität für eine Form … eine subtile Erscheinungsform von Korruption und versuche stets, ihr reflexartiges Auftreten zu konterkarieren. Loyalität versetzt mich in einen sozialen Zugzwang, der meiner Vorstellung von Individualität widerspricht. Für mich geht der Eine – du oder ich – voran, die andern kommen hinterher. Loyalität ist gefragt (wenn nicht gefordert) innerhalb eines jeweils bestehenden Rahmens: Familie, Freundschaft, Verein, Verband, Interessengemeinschaft, Rassengemeinschaft, Fanclub, Gewerkschaft, Partei, Firma, Verwaltungsrat, Gemeinde, Ministerium usf. Loyalität bedeutet, dass ich in solch vorgegebenem Rahmen Solidarität über Sachlichkeit und Gerechtigkeit stelle; dass ich Ungerechtigkeit oder Unsachlichkeit übersehe zu Gunsten eines wechselseitigen Gruppeninteresses; dass ich wider besseres Wissen zustimme, schweige, vertusche, vielleicht auch täusche und betrüge; dass ich den schone, von dem ich Schonung erwarten darf; dass ich den kritisiere, der meine Gruppe kritisiert; dass ich gegen meinen Willen und gegen mein besseres Wissen Fehlleistungen belobige oder auch leugne; dass ich Missstände und Unrechtmäßigkeiten akzeptiere, vielleicht auch fördere, solange sie der Gruppe … meiner Gruppe förderlich sind. Usf. Das Spektakel der Parlamentsdebatte mit Abstimmung gehört für mich zu den Schändlichkeiten normaler politischer Praxis: Da spricht man sich explizit für Vorlagen aus, gegen die man eigentlich protestieren oder wenigstens argumentieren möchte und gibt dafür auch noch die Stimme ab, obwohl die eigene Überzeugung … die eigene Erfahrung … das eigene Wissen und Gewissen dagegen spricht. Da weist man produktive Argumente und Anträge automatisch zurück, nur weil sie vom Gegner kommen und obgleich man deren Tauglichkeit erkennt. Da verteidigt man den Freund in der Öffentlichkeit gegen Anschuldigungen, von denen man weiß, dass sie zutreffen, oder man schreibt für einen Fakultätskollegen eine Gefälligkeitsrezension, für eine Partnerfirma ein Gefälligkeitsgutachten, obwohl man im Interesse der Sache die Mängel hervorheben müsste. Seilschaften aller Art profitieren weithin von solch falsch verstandener Loyalität, korruptes, sogar kriminelles Verhalten wird dadurch ebenso gefördert wie soziale und politische Verantwortungslosigkeit. Auf allen Ebenen des privaten und öffentlichen Lebens, auf allen Etagen von Behörden, Institutionen und Unternehmen greift die Versumpfung um sich, weil Loyalität, die eigentlich als Schmierenkomödiantentum diskreditiert werden müsste, weiterhin als eine Tugend hochgehalten wird. – Auf der schmalen Quaistraße herrscht reger Stadtverkehr. Ich bin suchend unterwegs zum Institut, wo ich meinen Vortrag halten soll. Ein geschichtliches Thema, etwas Mittelalterliches, Balkanisches. Bin nun doch erstaunt, dass diese international bekannte Institution in einem ungepflegten, ja heruntergekommenen Gebäude ihren Sitz hat – das Haus sieht eher wie ein Stundenhotel aus; überm Eingang steht, gefügt aus angerosteten kyrillischen Blechbuchstaben, der Name des Instituts, neben dem linken Türpfosten sind diverse Schilder angebracht, die auf Arztpraxen, Anwaltsbüros, Forschungsstellen verweisen. Etwas unsicher betrete ich das Gebäude, steige durch ein enges düsteres Treppenhaus in den dritten Stock. Man erwartet mich schon, im Korridor stehen in mehreren kleinen Gruppen meist jüngere Leute in leisem Gespräch beisammen. Die Tür zum Vortragsaal steht halb offen, ich erkenne durch den Spalt – und bin erstaunt – ein großes Auditorium mit steil ansteigenden, bereits gut besetzten Rängen. Mein Gastgeber, ein gut aussehender Mann mittleren Alters, begrüßt mich, teilt mir mit, dass er selbst den Vortrag halten werde und ich gebeten sei, die anschließende Diskussion zu moderieren. Der Mann, obwohl braungebrannt, macht einen müden, fast ausgezehrten Eindruck; vielleicht ist er krank. Er spricht frei in ukrainischer Sprache, es geht um einen mittelalterlichen Balkankrieg und die Frage, wer diesen Krieg in Wirklichkeit gewonnen hat. Ich kenne mich weder in der Thematik noch in der Problematik aus, dennoch gelingt es mir, auf Russisch eine lebhafte Debatte in Gang zu bringen. Nach der Veranstaltung lädt mich der Referent zu sich nach Hause ein, stellt mir seine junge Frau vor, die zur Zeit einen Kongress über Kindstod vorbereitet; sie zeigt mir ein illustriertes Dossier dazu – Hunderte von inzwischen verstorbenen Kindern in Schwarzweißaufnahmen und zu jedem Bild viele Zahlen, lateinische Begriffe (vermutlich Diagnosen), englische Kurzkommentare usf. Erst allmählich wird mir aus dem Gespräch klar, dass die beiden Kollegen auch ihr eigenes Kind an den Tod verloren haben; dass der geplante Kongress mit einem privaten Interesse verbunden ist – warum, woran ist unser Kind gestorben? Für einen Augenblick glaube ich … hoffe ich, mich in die Frau verliebt zu haben, gleichzeitig ist mir klar, dass ich sie niemals lieben werde, denn sie kniet jetzt in ihrem halbwegs durchscheinenden spermagrauen Trägerkleidchen vor einem unsichtbaren Grab, in ihren erhobenen Händen erkenne ich je ein eingekerbtes rotes Kreuz. Der Mann nimmt mich beiseite, um mir seine Diagnose anzuvertrauen. Er leide, wie er seit heute wisse, an einer tödlichen Erbkrankheit, und er vermute logischerweise, dass sein Kind an eben dieser Krankheit gestorben sei. »Doch wie sag ich’s meiner Frau?« Ich erwarte ganz selbstverständlich, dass er mich nun gleich bitten wird, die Frau aufzuklären; aber nein – er möchte, dass ich ihm bei der Literatursuche behilflich bin; er wünscht sich, dass wir »irgendwo in der Medizingeschichte« einen vergleichbaren Fall finden, den seine Frau als Erklärung für ihr Seelenunheil akzeptieren könnte. Meiner Liebe zu ihr stünde dann nichts mehr im Weg, und er selbst würde das Zeitliche längst gesegnet haben. – Wie die Order, so der Orden; das heißt: Der Orden ist der Lohn für die Erfüllung der Order. Aber hat die Sprache hier überhaupt mitzureden? Ist der Wechsel von r zu n (oder umgekehrt) ein sprachlicher Zufall? Ein bedeutungshafter Konsonantenwandel? N oder r? In der Frage selbst sind Order und Orden gleichermaßen enthalten. Noch ein Beispiel: »Es ist ein’ Ros’ entsprungen …« Die metrisch bedingte Kontamination von »eine Rose« zu ein’ Ros’ in dem alten Weihnachtslied hat uns einst als Kinder naturgemäß dazu animiert, den Vers nahezu homophon als »Es ist ein Ross entsprungen …« zu singen. Allein die Ersetzung des langen (offenen) o durch das kurze (geschlossene) o beziehungsweise der »Rose« durch das Ross hat mich damals begreifen lassen, dass auch bloß die Modifizierung einer Vokallänge oder einer Vokalmodulation die Bedeutung eines Begriffs völlig verändern kann. Seither war mir klar: Das Wort steht, die Bedeutung bröckelt. Worauf sich also besinnen? Was hat der Hintersinn mit dem Sinn zu schaffen? Im Fall von »Orden« (zu Order) lässt sich ein Bedeutungszusammenhang herstellen, im Fall von »Ross« (zu Ros’) ist es nicht möglich, doch anderseits ist die Plausibilität garantiert durch die Verbform »entsprungen«, die auf Rose und Ross gleichermaßen passt. – Anton Tschechows letzte Worte – oft zitiert – wurden auf deutsch gesprochen: »Ich sterbe!« Bei einer Begegnung (Geburtstagsparty) in Berlin hat mir Andrej Bitow dazu eine russische Lesart beliebt machen wollen: Ech, schterwa! (»och, du Miststück!«). Demnach wären Tschechows Biografen bislang einem Missverständnis aufgesessen: Da der Schriftsteller in einem Spitalzimmer in Badenweiler in Gegenwart seines deutschen Arztes starb, lag es nahe, den deutschen Wortlaut anzunehmen. Die Aussage des Autors erweist sich damit eher als banale Feststellung denn als ein bedenkenswertes Vermächtnis. Liest man sie aber (was in diesem Fall, da es sich um ein letztes Wort handelt, naheliegt) vom russischen, also muttersprachlichen Wortlaut her, gewinnt sie unversehens eine übertragene Bedeutung, die mit Blick auf Tschechows langwierige Krankheit auch durchaus plausibel wäre: Was für ein Miststück ist doch das Leben! Oder der Tod?

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