2. August

Aufgestanden um sechs; um halb sieben wecke ich Krys, sie muss auf den Frühbus, um rechtzeitig am Bahnhof und gegen Mittag in Zürich zu sein, wo sie heute mit ihrer chinesischen Schülerin ein Klavierstück von Iwan Wyschnegradskij erstmals durchnehmen und einüben wird. Ich begleite sie zur Haltestelle, wie immer winkt sie aus dem Heckfenster des Busses, bis wir einander aus den Augen und aus dem Sinn sind. Ich gehe zu Fuß weiter, steige zum Wald hinauf, die feuchte Hitze von gestern ist verweht, die Luft ist leicht und klar. Ein unsteter Bodenwind treibt ein paar erste angewelkte Blätter vor sich her. Ich lege mir, nach den Tagen mit Krys, ein kleines Schreibprogramm für die kommenden Tage zurecht, vor allem Pendenzen sind zu erledigen, eine Kolumne, zwei Rezensionen, diverse Lyrikübersetzungen (Edith Boissonnas, Charles Racine, Jude Stéfan); auch sollte ich meine Lektüren besser (strenger) organisieren – ich lese noch immer fast alles, was kommt, das Meiste erweist sich als entbehrlich, anderes gerät mir zur Entdeckung, so unlängst die Nachlese zu ›Ostinato‹ von Louis-René des Forêts, die jetzt bei William Blake & Co. in einer schönen Ausgabe vorliegt. Noch mehr Bücher! Noch mehr lesen? Und was bleibt mir von diesem Gewicht? Was bleibt mir davon präsent? Mit schwindender Erinnerungskraft wächst die Intensität der Lektüre – das Lesen wird mir wichtiger, bringt mir mehr als das Gelesene. Von daher rührt wohl auch die Faszination des Wiederlesens, mein Bedürfnis, eine Bibliothek im Rücken zu haben oder wenigstens in leicht erreichbarer Nähe. Lesen gibt mehr her als gelesen zu haben. Und vielleicht hat ja sogar die unbedarfte Vorstellung ihre Richtigkeit, dass man sich Texte durch Lektüre einverleibt, um sie zu verdauen. Dem Gedächtnis mögen sie entfallen, als Energie wirken sie fort. Was mir vom Lesen bleibt, ist das, was ich – vergessen – habe. – Zwei Stunden unterwegs im Auto, höre dabei Anton Webern unterm Dirigat von Pierre Boulez, Klavierstücke, Chorwerke, Kammermusik usf. Ich kann erkennen, wie – und wie stark – diese Kompositionen gebaut sind, kann verstehen, nicht aber distanzlos mich der Musik anvertrauen. Wieder stelle ich mir die laienhafte Frage, ob Zwölftonsätze anthropologisch adäquat sein können und dem menschlichen Gehör angemessen sind. Denn eigentlich ist es doch unzweifelhaft so … bei mir, als Laien, ist es jedenfalls so, dass ich zwölftönige Melodien als komponierte Geräusche wahrnehme und dabei kaum je über den Status eines unbedarften Hörers hinauskomme, der sich stets bewusst bleibt, dass er im Begriff ist, komponierte Geräusche wahrzunehmen. Zu solchem Hören muss ich mich immer wieder entschließen … solches Hören, solches zu hören, ist für mich eine Anstrengung, die ich als Arbeit bezeichnen würde und die ich als disziplinierenden Gegenzug zu jenem Hingerissensein … zu jener vorbehaltlosen Bewunderung empfinde, die bei mir aufkommt, wenn ich – zum Beispiel – eine Kantate von Bach, ein Lied von Schubert, eine Messe von Mozart mithöre. Theodor W. Adorno hat Schönberg gegen Strawinsky ausgespielt … hat Strawinsky geradezu rüde abgefertigt als Abweichler und Weichling angesichts der konzeptuellen Strenge Schönbergs und der Schönbergianer; aber vielleicht ist ja doch die Erweiterung der mehrheitlichen neuzeitlichen Hörkultur eher einem Strawinsky, einem Janáček, Bartók oder Schostakowitsch mit ihren Kompromissen zwischen Zwölfton und Melos, Technik und Folklore zu verdanken? Während Schönberg und die Seinen die Kunst der Komposition … das Schreiben von Musik vorangebracht haben! – Lese erstmals Jean Starobinskis Versuche über ›Besessenheit und Exorzismus‹, bin besonders beeindruckt von seinen mythologisch-psychiatrischen Ausführungen über den Selbstmord am Beispiel des sophokleischen ›Aias‹. Der Selbstmörder ist in diesem Fall kein Verzweifelter, kein Kleinmütiger und schon gar kein Feigling, er ist ein durch Unglück und Schuld erstarkter Held, der in voller Klarheit und mit intaktem Selbstbewusstsein in den Tod geht. Die Souveränität des Aias geht so weit, dass er den Suizid tatsächlich als Selbstmord begehen kann, ohne ihn als Freitod behaupten zu müssen. – Dass »der Mensch« gegenüber der Tier- und Pflanzenwelt permanent überbewertet wird, hängt schlicht damit zusammen, dass nur er – wie auch immer – sich selbst einzuschätzen vermag. Es gibt kein anderes Gericht. Es gibt nicht den Kiesel, der den Ahorn beurteilt, auch nicht den Esel, der mich beurteilt. Der Mensch (in Anführungsstrichen) bleibt gegenüber dem, was nicht Mensch ist, immer oben, auch wenn er ganz unten ist. – Ludwig Wittgenstein, eine Lichtgestalt meiner Studienzeit, verliert für mich an Glanz und Autorität, seitdem ich aus Selbstzeugnissen, Zeitdokumenten und privaten Papieren sehr viel mehr über ihn weiß als damals. Nach der Lektüre des sogenannten geheimen Tagebuchs und mancher Briefe Wittgensteins, aber auch der Erinnerungen von Drury und Malcolm an ihn verliert seine geistige Erscheinung an Strahlkraft, und es stellt sich … und ich stelle mir einmal wieder die Frage, inwieweit Leben und Werk, zeitgeschichtliche Person und intellektuelle Präsenz bei Autoren solchen Rangs aufeinander einwirken, sich gegenseitig bedingen, von einander überhaupt zu trennen sind. Kann man mit Montaigne davon ausgehen, dass »jeder (Autor) in keiner Weise in seinem Werk (präsent) ist«? Was haben Wittgensteins jüdische Herkunft, seine finanzielle Saturiertheit, seine homosexuellen und pazifistischen Neigungen, seine handwerklichen und architektonischen Fähigkeiten, seine literarischen Interessen, seine Emigration nach Großbritannien und die Übernahme des Englischen als Alltags- und Berufssprache, sein brachialer Jähzorn und sein oft asoziales Verhalten … was hat dies alles mit seinem Werk zu tun? Inwieweit ist, umgekehrt, sein Werk von diesen lebensweltlichen Prämissen geprägt? Kann man … darf man von derartigen Prägungen in der Auseinandersetzung mit den Texten absehen? Man müsste … ich muss … ich möchte im Interesse einer objektiven kritischen Lektüre davon absehen, habe damit aber, wie die meisten Leser, meine Schwierigkeiten. – Ideale Voraussetzung für einen sachgerechten Umgang mit philosophischen oder literarischen Texten wäre deren Anonymität … wäre die Ausblendung sämtlicher zeitgeschichtlichen und biografischen Realien. Die Tatsache, dass von den meisten Autoren der griechischen und römischen Antike (wie auch für viele des Mittelalters) keine verlässlichen Personalien oder gar Lebensbeschreibungen überliefert sind, ist für das Verständnis ihrer Texte Erschwernis und Entlastung zugleich. Wie würden wir die Vorsokratiker … wie würden wir Sophokles, Chrysipp oder Lukrez lesen, wenn uns ihre Lebensumstände, ihr persönlicher Charakter, ihre privaten Beziehungen im Detail bekannt wären? Dass die Defizite an diesbezüglichen Informationen durch zahllose Anekdoten, Gerüchte und Mutmaßungen reichlich kompensiert werden, macht deutlich, wie groß das Bedürfnis nach integralem Zusammendenken von Werk und Leben schon immer gewesen ist. Um auf Wittgenstein zurückzukommen – ich würde »Wittgenstein« (das Werk) und Wittgenstein (den Autor) streng auseinander halten … ich würde nicht das eine durch das andere erklären wollen, sondern dies wie jenes je für sich nehmen und es einzeln betrachten; beides ist faszinierend genug, doch fasziniert’s auf völlig unterschiedliche Weise. Was aber, versteht sich, nicht allein für Wittgenstein … was für jeden Autor Geltung hat.

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