20. August

Aufenthalt in einer fremden Großstadt, bin oft im Mietwagen unterwegs, begleitet von einem jungen, mir unbekannten Paar – sie eine kleine patente Frau, die hier als Kellnerin oder Köchin arbeitet, er ein Mann ohne besondere Eigenschaften, Bodyguard und Fahrer, der uns zu den Veranstaltungen bringt und mit entsicherter Waffe jeweils im Notausgang steht. Wir kurven auf der Suche nach einem Parkplatz lang durch die verwinkelte Altstadt, lassen den Wagen schließlich – halb auf dem Gehsteig, halb auf der Straße – vor dem Lokal stehen, treten ein, setzen uns einzeln zwischen die eng gedrängten Gäste auf einer Bank zum Essen, müssen nun aber gleich ins oberste Stockwerk, wo ich zu meiner Lesung erwartet werde. Es sind die Privaträume des Verlegers, viele … zu viele Besucher sind schon eingetroffen, sie sitzen am Boden, auf Fenstersimsen, Schreibtischen, Heizkörpern. Im Entree zur Wohnung sind auf einem Bügelbrett meine Bücher aus diversen Verlagen gestapelt, darunter zwei große Bände von Francis Ponge in deutscher Übersetzung. Ich werde von meinem Verleger, Franz (oder Mark?) Sell, freundlich eingeführt und erfahre beiläufig, dass ich nun einen Text über Adolf Hitler lesen soll, den ich vor Jahren aus einem Buch von Edmond Jabès übersetzt habe. Nein, ich habe keinerlei Erinnerung daran – der Verleger reicht mir ein Bündel großformatiger loser Blätter, die in verschiedenen Schrifttypen und Schriftgrößen bedruckt und mit vielen Marginalien und Fußnoten versehen sind. Ich habe dieses komplizierte Schriftbild zum ersten Mal vor Augen, lese mich, gleichsam im Zickzack suchend, durch den zerklüfteten Text und … aber schon wieder sitzen wir beim Essen, unsre kleine Begleiterin serviert, die Zeit ist knapp, wir müssen weiter … wir müssen fort von hier. Hinter einem fremden Wagen mit Blaulicht fahren wir im Pfeifkonzert der Gaffer hinunter zum Ausgang. – Der Friseur hat den Menschen (zumindest dessen Kopf) ganz vor sich, sieht ihm gleichzeitig ins Genick und, durch den Spiegel, ins Gesicht, geht dauernd um ihn herum, bekommt gleichsam ein nach innen gewandtes Panorama zu sehen – das gleiche Dispositiv wie das des Bildhauers mit seinem Modell. – Statt an dem geplanten Roman zu schreiben, lese ich Schach- und Kontrapunkt- und Mathematiklehrbücher aus dem 18. Jahrhundert und … und sehe mir bis zur Verblödung Fernsehkrimis an. Zu merklicher Verblödung tragen mehr und mehr auch die Schmerzen bei … und die Medikamente, die ich dagegen einsetzen muss. Was Wunder! Doch im Unterschied zur Wunde schmerzt das Wunder nicht, und deshalb glaube ich auch nicht daran. – Wieder bei Plutarch, die Parallelbiografien mit meinen früheren Anstreichungen – alles vergessen! Wohin verkrümelt sich all der vergessene Lesestoff? Vielleicht geht’s beim Lesen (wenn man nicht aus professionellen Gründen lesen muss) weniger um das Gelesene als um das Lesen selbst. Plutarch – ich komme gern auf ihn zurück – gehört zum Intelligentesten, auch zum Spannendsten, zum Lehrreichsten, was es zu lesen gibt; er ist ein Biograf, der immer auch Varianten einbringt, für ihn sind Möglichkeiten, Virtualitäten ebenso relevant wie das tatsächlich Geschehene und dokumentarisch Bezeugte. Plutarch zeichnet nicht bloß Lebensbilder nach, er forscht, kritisiert, wertet, stellt hochinteressante Überlegungen auch zu sprachlichen Dingen (Namen) an, interessiert sich für die Entstehung und Entfaltung von Mythen. – Am späten Nachmittag mit Krys unterwegs im Zürichbergwald, danach zum Abendessen auf der Terrasse des Hotelrestaurants mit Panoramablick in die fernen, von lichtem Dunst umschwebten Alpen; schlecht (und teuer) gegessen, gut und vertrauensvoll geredet; zu Fuß hinab in die Stadt. – In Afghanistan wird eine schwangere (weil vergewaltigte) Frau öffentlich mit zweihundert Peitschenhieben abgestraft, dann durch drei Kopfschüsse hingerichtet; gleichzeitig geht in einer pakistanischen Provinzhauptstadt eine Militärparade in Szene, abgenommen von einer hochschwangeren Oberkommandierenden, deren Uniform eigens für den Anlass und für ihren Bauch konfektioniert worden ist – bei der TV-Übertragung sind die klimpernden Epauletten und Orden zu hören. – Um halb sieben in der Bäckerei. Der Meister hebt bei meinem Eintritt die vom Mehl geweißte Hand – nicht um sie mir zu reichen, sondern um durch das Fenster der Backstube hinauszuweisen in den Morgen, der sich in rosigem Grau am noch nächtlichen Himmel auszumalen beginnt. »Das«, sagt er mit sanfter Begeisterung, »ist der tägliche Höhepunkt in diesem Beruf – die Dämmerung! Täglich dieses große Erwachen … Farben, Geräusche, Hoffnungen, die mit dem frühen Morgen allmählich hochkommen, sich ausbreiten, überhand nehmen und … je … und siegen. Jedes Mal ein stiller Triumph, an dem ich teilhaben darf, ohne irgendetwas dazu beigetragen zu haben …« Das ofenfrische Brot ist noch so heiß, dass ich’s auf dem Rückweg nach Haus ein paarmal von einer Hand in die andere geben muss, um mich nicht daran zu verbrennen. – In der Straßenbahn, unterwegs zum Zahnarzt, kommt mir plötzlich jene beiläufige Szene in den Sinn, da Graf Wronskij, Anna Kareninas eleganter Lover, von heftigen Zahnschmerzen gepeinigt auf dem Bahnsteig herumstapft und sich nur noch fragt, wodurch er sich diese Qual verdient hat. Mir bleiben solche und noch schlimmere Qualen erspart, obwohl ich eine anderthalbstündige Operation am Oberkiefer zu überstehen habe. Die Lokalanästhesie trennt mich vom Schmerz, nicht aber von feineren Empfindungen – jeden Schnitt, jeden Stich kann ich als harmlosen Kitzel spüren, auch wenn ich nicht mehr so recht weiß, wo mir der Kopf steht. Gegen Ende der Behandlung sehe ich den Zahnarzt vor meinen Augen mit Nadel und Faden hantieren – gleich wird er die Wunden im Zahnfleisch von Hand unter seiner Stirnlupe vernähen. Wonach ich ihm mit völlig empfindungslosem Mund zu seinem handwerklichen Geschick gratuliere. »Ich fühle mich übrigens«, sagt er, »viel eher als Künstler! Jedenfalls nicht nur als medizinischer Techniker …« – Heute wird die Wohnung meines Nachbarn ausgeräumt. Eine ferne Verwandte von ihm steht mit vor der Brust gekreuzten oder in die Hüften gestemmten Händen im Korridor und überwacht das Geschehen. Da werden zentnerweise alte Bücher, kistenweise alte Weine, dazu Teppiche und Bilder weggetragen – alles geht ins Brockenhaus, niemand sonst will diesen exzellenten Nachlass haben. Herr Tobler ist – ich hab’s nicht mitbekommen – vor zwei Wochen gestorben an Pankreaskrebs, ein freundlicher, ruhiger Mann meines Alters, alleinstehend, Mieter der Sechszimmerwohnung im zweiten Stock. Wir haben nie miteinander geredet, haben uns nur gegrüßt. Einmal sagte er im Vorbeigehn mit gesenktem Kopf: »Ich lese Sie seit vielen Jahren, gratuliere.« Ein andermal traf ich ihn spät in der Nacht auf dem Flur; er lehnte mit offenem Hemd, in Unterhosen und Kniesocken im Türrahmen seiner Wohnung, aus der eine sentimentale Opernarie ins Treppenhaus dröhnte und … und er schaute mich endlos traurig, ein wenig verwirrt, aber keineswegs verlegen mit hellen wässrigen Augen wortlos an. – Nach dem Abschied von Boris Vildé und dem Gut-zum-Druck für meine ›Steinlese‹ bin ich mal wieder (gleichsam) ohne Job, keine Ahnung, was nun als Nächstes kommt … was kommen könnte, kommen sollte; das ist bei mir schon immer so gewesen, im Lauf des Schreibens wie im Lauf des Lebens insgesamt: Ich habe immer erst dann einen Punkt gesetzt, wenn ich tatsächlich nicht weiterwusste … wenn ich nicht wissen konnte, was oder wer als Nächstes kommen würde. Nie ein Schlusspunkt, kein Abschied, keine Trennung, wenn die Ablösung (im doppelten Wortsinn) bereits feststand. Ich verabschiede mich, wenn ich gehe, nicht für jemanden, ich verschiede mich von jemandem.

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