20. September

Gabelfrühstück mit Krys. Ich frage sie – noch bevor die heutigen Zeitungen da sind –, was es mit diesem Tag auf sich hat. Der 20. September? Ist an dem Datum irgendwas dran? Irgendein Jubiläum, eine kalendarische, eine jahreszeitliche Besonderheit? Ein historisches Ereignis – eine Schlacht, ein Erdbeben, ein Tyrannenmord, eine astronomische Entdeckung, ein Friedensabkommen, ein sportlicher Rekord, ein Attentat, eine skandalöse Uraufführung, eine Überschwemmungskatastrophe? Oder bloß mein Namenstag? »Ein Tag wie jeder«, meint Krys. – Im Südwestfunk liest Martin Walser aus seinem jüngsten Roman vor, ›Das dreizehnte Kapitel‹, gepflegte Altherrenprosa, unterfüttert mit Altherrenwünschen und Altherrenängsten. Man kann sich das für ein paar Minuten anhören … Ich höre mir das eine Weile an, sage mir dann, dass Walser doch eigentlich schon immer ein Altherr war, jugendlich zwar, in antikischem Verständnis ein puer senex, ein jungenhafter Greis. Den Charme dieser lebensumgreifenden Gleichaltrigkeit, dazu die Klugheit, die aus Bedacht und Spontaneität erwächst, bringt Walser einzig in seiner Kunstfigur (genauer: in seinem »Messmer« genannten Kunstkopf) überzeugend zur Geltung. Die messmerschen ›Gedanken‹ gehören, meine ich, zum Grundbestand markanten zeitgenössischen Denkens hierzulande. – Matthias Messmer berichtet in einer Mail aus Shanghai von seiner Informationsreise nach Birobidschan – er schickt Fotos, die ihn mit einem Rabbiner und einem Professor der Judaistik vor einer Synagoge zeigen, Fotos mit Stadtansichten, Landschaften, unbekannten Passanten. Alles sieht dort nach Kulissen aus, selbst Bäume und Menschen scheinen künstliche Gebilde zu sein, die Inschriften in hebräischen und kyrillischen Schriftzeichen sehen aus wie eigens angebrachte Graffiti. Die Gründung der Autonomen Jüdischen Sowjetregion im Fernen Osten geht auf ein Dekret Stalins aus dem Jahr 1931 zurück und sollte wohl so etwas wie eine Realparodie auf das Gelobte Land sein – ein innerstaatliches Ghetto zur Sammlung und Überwachung der sowjetischen Juden. Eine führende Rolle bei der Umsetzung dieses Projekts soll der avantgardistische Architekt Hannes Meyer gespielt haben. Doch welche Rolle? Und wie ist er, als Schweizer, zu dieser Rolle gekommen? Ich werde bei Messmer nachfragen, will ihn auch darauf aufmerksam machen, dass Stalin die Idee einer jüdischen Enklave im Sowjetstaat von dem deutsch-russischen Armeeoffizier Paul Pestel übernommen hat, der im frühen 19. Jahrhundert in einem politisch brisanten Thesenpapier die Aussiedelung von Millionen russischer Juden nach dem Fernen Osten propagierte und 1825 wegen eines versuchten Staatsstreichs hingerichtet wurde. So vergehen Ideen, um irgendwann irgendwo aufzuerstehen und in die Tat umgesetzt zu werden. Trost? Fatalität? – Bin unterwegs zur jährlichen Theatertagung in Südfrankreich, habe meine Texte – Schmuggelware – in den Seitentüren des Autos versteckt, genauer: habe sie Blatt für Blatt in den schmalen Spalt zwischen Fensterscheibe und Türverkleidung gezwängt und verklebe den Spalt nun mit transparentem Kaugummi – was hier an der Grenze unbemerkt bleibt. Nun soll ich hier aus meinem neusten Stück lesen, an einer Podiumsdiskussion teilnehmen. Das riesige Kongressgebäude, errichtet im Allerweltsstil der 1950er Jahre, ist bevölkert von Gästen und Autoren und zahllosen Kuratoren und Literaturagenten, von denen jeder sein Namensschild wie einen übergroßen Orden an der Brust trägt. Ich weiß, dass Krys im Publikum sitzt, kann sie aber in den Rängen des Auditoriums unter den vielen Leuten nicht ausmachen. Mit mir zusammen soll Diana Botticelli auftreten, die ebenfalls ein neues Stück dabei hat; sie hält sich in meiner Nähe, vermutlich weil sie kein Französisch kann und sich von mir Schützenhilfe auf dem Podium erhofft. Folgt eine lange Vorbesprechung, bin erstaunt, zu wie vielen Veranstaltungen ich aufgeboten werde: Ich soll ein Grundsatzreferat zur Lage des zeitgenössischen Stückemarkts halten, dann Fragen beantworten, dann bei den Chirurgen zum Interview antreten und dort auch eine Lesung abhalten usf. Ich schlage vor, dass an meiner Stelle Krys dazu eingeladen wird, was Diana ungern hört; doch außerdem muss ich dringend nach Catania fahren und dort die Fähre nach Tartaros nehmen, ja, es drängt, ich darf den Zug nicht verpassen, muss noch meine Texte aus dem Kartenfach der Wagentür klauben, und da ich nun am Bahnhof ankomme, den Perron erreiche, sehe ich, wie der Zug langsam anrollt und wegfährt. Die Waggontüren sind noch geöffnet, ein Junge läuft neben dem fahrenden Zug her, springt im letzten Moment auf, die Türen schließen sich. Ich bleibe zurück, so jung wie der dort – flüstert mir Ajgi ins Ohr – bist du schon längst nicht mehr. – Während zwanzig Jahren bestand zwischen dem Filmregisseur Michelangelo Antonioni und dem Schriftsteller Alain Robbe-Grillet die Bereitschaft, zuletzt auch die konkrete Absicht, ein gemeinsames Filmprojekt zu realisieren. Nachdem ein erstes derartiges Projekt schon in früher Phase daran gescheitert war, dass die beiden befreundeten Großmeister sich nicht darüber einigen konnten, wer die Federführung für das geplante Werk innehaben sollte, kam es dann doch noch, unter völlig neuen und äußerst ungewöhnlichen Voraussetzungen, zu einer Einigung. Antonioni hatte einen Hirnschlag erlitten, war halbseitig gelähmt, konnte nicht mehr sprechen und sollte nun mit all seinen gravierenden Behinderungen als Darsteller in einem Film auftreten, dessen Hauptrolle Robbe-Grillet ihm buchstäblich auf den Leib geschrieben hatte – die Rolle eines alten, in stummer Verbitterung seinen Tod erwartenden Potentaten, der noch immer das Kommando über eine ruinöse Festung und deren Wachmannschaft ausübt, ohne zu wissen, was da vor wem zu bewachen ist. Das Projekt und dessen Realisierung waren bis hin zum Casting abgesprochen, doch finanzielle und juristische Querelen verzögerten die Umsetzung, und 1994 wurde das Unternehmen eingestellt. Nachdem Antonioni und Robbe-Grillet kurz nacheinander gestorben sind, liegt nun postum, als einziges Dokument ihrer geplanten Zusammenarbeit, das Drehbuch zu ›Die Festung‹ in Buchform vor. Der Text ist bis hin zu einzelnen Kameraeinstellungen, Klangereignissen oder atmosphärischen Stimmungen ausgearbeitet und vermittelt dadurch eine Wahrnehmungsdichte und Detailschärfe, die in eklatantem Gegensatz steht zum vagen, weitgehend handlungslosen Plot, der mit einem Minimum an Personal und Kulissen auskommt. Der Ort des Geschehens reicht über die Festung kaum hinaus, bleibt beschränkt auf deren exzentrische Position über steilen Meeresklippen sowie auf deren inneres Labyrinth, bestehend aus endlosen Korridoren, dunklen Zimmerfluchten und Geheimgemächern. Die Dimension der Zeit dagegen ist variabel konzipiert und reicht auf der historischen Achse von der Antike bis zur Gegenwart, ohne freilich linear und progressiv abzulaufen. Geschichtliche Zeit, subjektive und geträumte Zeit verbinden sich zu einem wogenden Gemenge, als dessen Koordinaten – man kennt das Verfahren aus Robbe-Grillets Romanwerk – vor allem Eigennamen, Requisiten und Kostüme figurieren. Gewisse Waffen oder Uniformen verweisen bald auf das 18. Jahrhundert, bald auf die 1920er Jahre, ein altes Morsegerät evoziert die Frühzeit moderner Kommunikation, weibliche Gewandungen – alles sehr präzis beschrieben – erinnern an mythologische Gestalten. Die Zeit wird außerdem relativiert dadurch, dass alle Protagonisten von Doppelgängern begleitet oder von Wiedergängern befehdet werden, die auf jeweils unterschiedlichen Zeitebenen zugange sind, unterschiedliche Namen tragen und in unterschiedlichen Stimmen – häufig aus dem Off – sprechen. Die zeiträumliche Konstellation dieser Kunstfiguren ist völlig transparent. Als Hauptperson fungiert der greise Festungskommandant Marcus, der zusammen mit einem schnittigen Adjutanten, einer jungen, bildschönen Pflegerin, einem obskuren Arzt und einer handvoll sich langweilender Soldaten die gigantische Ruine am Meer bewohnt und auf den Angriff eines unbekannten Feinds wartet, eines Angriff, der jedoch – vielleicht – viel früher schon stattgefunden hat. Man weiß nicht, was gewesen ist, was kommen wird, was der Fall ist. Man weiß oder ahnt bloß, dass … [bricht ab]

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