21. April

Luxuriöse Lektüren! Lesen, ohne an irgendwelche Aufträge oder Projekte denken zu müssen, einfach zugreifen und lesen, als wär’s eine unerwartete und unverdiente Gabe. Ich habe nun erstmals – spät genug! – den genialischen Diogenes Laertios ganz durchgenommen, dazu eine Darstellung des griechischen Skeptizismus, vor allem des Pyrrhonismus gelesen, bin von dort zu den Chinesen gekommen, zu Laotse, dann mit Günter Wohlfart zur Poetik des Haiku, habe von dem Sinologen François Jullien die neusten Sachen gelesen (›Affenbrücke‹ usf.), bin außerdem, endlich, bei René Girards Frühwerk über den Roman und das Romantische angekommen, dort wiederum an Stendhal erinnert worden, von dem ich in der Folge einige der wenig bekannten Romane und Novellen (geradezu:) verschlungen habe. Mir solche Lektüren leisten zu können … mir diese Lektüren gefallen zu lassen, ist das Höchste, was mir in meiner kleinen Welt erreichbar ist. Kein Millionenbonus könnte dieses Vergnügen und diesen Gewinn ersetzen. – Auch das Reden, das Schreiben müsste ich noch mehr entkrampfen, es von der Richtigkeit, von der Linearität und Progressivität abbringen. Nicht als Autor reden, nicht von mir aus auf etwas hin reden, sondern es reden und schreiben lassen. Es – die Sprache. Das Buch – ein Wörterbuch. Das Selbstredende stärken bei gleichzeitiger Entmächtigung des sprechenden Subjekts; poetisches Reden ist für mich positionsloses, subjekt- und bedeutungsfernes Reden. Nicht Fragen beantworten, Probleme lösen, sondern Anregungen aufnehmen, weitergeben. Die Wörter so nehmen, wie sie als solche (von sich aus) sind; ihre Bedeutung kommt lediglich dazu, kommt – wenn ich sie mit andern Wörtern in Berührung bringe – hinterher. Die Wörter und mit ihnen – auf dem flimmernden Bedeutungshintergrund – die Dinge gleichwertig koexistieren (vorkommen) lassen. Prozess statt Prinzip; Präsenz statt Referenz. Poetisches Reden entfaltet sich gemäß seinen eigenen sprachlichen Effekten, und von diesen Effekten erhält es auch seinen Impuls. Tschuang-Tse: »Es hat noch kein ›es hat noch keinen Anfang gegeben‹ gegeben.« Nichts soll durch mein Schreiben festgehalten, möglichst viel freigesetzt, angeregt, auf den Weg gebracht werden, ausgeliefert an einen Sinn, der von außen … der hinterher kommt. – Bin heute im Wald von zwei tollenden Hunden angefallen worden, die mir die Hose bis zum Gürtel verschmutzten; sie haben mich wohl für ein Beutetier gehalten, aber kein Jäger weit und breit, kein Herrchen weit und breit, von dem sie auf meine Fährte gebracht worden wären. – Elias Canetti kam es nach eigenem Bekenntnis, je älter er wurde, desto weniger darauf an, das Sagen zu haben und Recht zu behalten. Wenn er gleichwohl bis zuletzt mit forciertem Eigensinn an seiner »behauptenden« Redeweise festhielt, die im wesentlichen bloße Widerrede, mithin »reaktionäre« Rede war, tat er es doch, wie manche seiner Aufzeichnungen erkennen lassen, mit schwindender Überzeugung und wachsender Resignation. Diesem späten Nachgeben – oder sollte man besser von Entkrampfung reden? – war ja viel früher schon die Einsicht vorausgegangen, dass sich sprachliche Authentizität keineswegs durch das wortreiche »Selbstbehauptungsgeschrei« derer kundtut, die angeblich etwas mitzuteilen haben, sondern im alltäglichen, eher beiläufigen und undeutlichen Parlando jener Mehrheit von Menschen, denen »die Macht der Rede nicht gegeben« ist. »Je freier ich dafür war, je mehr Zeit ich daran wandte, je mehr ich davon erfuhr«, hielt Canetti jedenfalls im Rückblick fest, »um so größer wurde mein Staunen, dass es diese Vielfalt gab, und zwar in der Armut, der Banalität, der Missbrauchtheit der Worte, nicht in der Großsprecherei und Aufgeblasenheit der Dichter.« – Weltweit und in allen Medien und Supermärkten wie auch hier in der tiefsten Provinz – lauter Osterkitsch; Hasen, Eier, Tauben, alles überzuckert und mit Schleifen dekoriert. Zieht das Fest den Kitsch an oder setzt das Fest den Kitsch voraus. Und was gibt’s eigentlich zu feiern? – Im Studio 4 noch einmal Peter Greenaways ›The Cook, the Thief, His Wife & Her Lover‹ von 1989, wieder mit stärkster Wirkung an der Grenze des Erträglichen; und dennoch ist der erlösende Schluss – Spicas Erschießung durch Georgina – des Guten zu viel; denn so leicht und so bündig kommt menschliche Niedertracht in Wirklichkeit nicht an ihr Ende. Den Engel (Kind und Künstler) macht der Boss definitiv zum Krüppel, und kotzen tut er erst dann, als er seinesgleichen aufzufressen beginnt – dies ist der Anfang von seinem allzu humanen Ende. – Die Morgendämmerung geht früh ins Strahlen über, schon um halb sieben steht der Tag wolkenlos und milchblau da; der Wald ist durchflutet vom flachen Licht – eine weitläufige Basilika, gestützt von unzähligen schlanken Säulen. Irgendwo, ganz oben, tut der Specht, was nottut, sein Hämmern ist der einzige Laut, der hier verhallt. Unablässig. Ich bleibe stehn, ich horche hin, zähle nach – es sind jedes Mal neun Schnabelhiebe, dazwischen jedes Mal neun Sekunden Pause, dann erneut die neun ratternden Hiebe … neun Minuten lang, ich hab’s auf der Armbanduhr überprüft. Und? Worin besteht das Geschäft des Spechts? Wozu die Präzision und die Regelmäßigkeit des Hämmerns? Warum jedes Mal neun? Neunmal gehämmert, dann neun Sekunden Pause usf. – und der ganze Passus dauert neun Minuten! Hat die Neun hier eine Funktion, eine Bedeutung? Oder beruht alles … oder hab ich da bloß eine einmalige Zufallsserie beobachtet?

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