21. August

Über Nacht schwerer Regen nach üppig warmem Tag. Unruhiger Schlaf, bin immer wieder aufgestanden, um auf der Türschwelle zum Garten hin durchzuatmen – jedes Mal, zuoberst im Himmel, das schlierige Augenweiß des Vollmonds, verschattet von fliegenden Wolkenfetzen, sah aus, als blinzelte der Mond oder … oder wenigstens das Auge des Monds. Zwischendurch, in vielen Folgen, ein großer Traum mit Krys, J. A., Verena Flick, Mille, Ann Holyoke, Simon Morris, Kirill Koszynskij und manchen mir unbekannten Zugewandten – es ist mal wieder ganz ähnlich wie im wahren Leben, ganz hiesig und doch so ungeheuer fern und fremd. Auftrag wozu. Reise wohin. Erinnerung woran. Irritation wodurch. Staunen worüber. Begehren wonach. Abschied wovon … von wem? Es ist schon so – ich sollte endlich mal meine Identitätspapiere, Kredit- und Mitgliedskarten aus der Verstreuung zusammensuchen, aus Sakkos, Mänteln, Mappen, Brieftaschen, Reisegepäck … zusammensuchen, um auszusortieren, was nicht mehr gültig ist: »Not more guilty!«, schrie mir gestern beim Anstehen vor dem James-Joyce-Club der Türsteher wütend ins Gesicht. – Im akademischen wie im literarischen Betrieb bin ich … in betrieblicher Hinsicht gelte ich weithin als asoziales und unproduktives Element. Recht so. Ich mag mich weder auf die eingespielten Rituale noch auf die Rhetorik des Betriebs einlassen, sehe auch nicht, welchen Gewinn – außer dem Prestige – ich daraus ziehen könnte. Unter meinen bevorzugten Gesprächspartnern finden sich nur vereinzelt Literaten oder Professoren – am produktivsten unterhalte ich mich mit Zeitgenossen aus meiner provinziellen Alltagswelt, mit Marie-France (der Coiffeuse), mit Lutz (dem Dorfbäcker), mit Monsieur Kléber (dem Gärtner), mit Viviane (der Briefträgerin), mit Igor Casanova (dem Förster). Mit ihnen treffe ich mich regelmäßig, ohne einen besonderen Anlass dafür zu haben … treffe mich mit ihnen, rede mit ihnen frei von irgendwelchen Ambitionen, nur einfach mit dem Interesse für das, was sie an Interessantem zu berichten und zu bieten haben, an Berufs- und Lebenserfahrung, an Fragen und Wünschen, an Dingen, die mir meist ziemlich fremd sind und die ich mir um so lieber erklären lasse von Menschen, die sich darin besser auskennen als ich. Vom Bäcker, vom Förster lerne ich mehr … erfahre ich mehr an nützlichem Wissen als von noch so gebildeten Sekundärliteraten; ich lerne fünf Arten von Veilchen, fünf Arten von Mehl kennen, weiß nun, wie sie zu unterscheiden sind und stelle fest, dass ihre Eigenarten und Unterschiede in Worten nur angedeutet und keineswegs erschöpfend beschrieben werden können – es geht nicht ohne sinnliche Wahrnehmung. Doch auch die Wahrnehmung stellt sich nicht einfach automatisch ein, sie muss angeregt und ausgerichtet werden, und eben diese Anregung und Ausrichtung bekomme ich im Gespräch mit denen, die den Dingen näher sind als ich … näher als jeder, der die Welt vor allem anhand von Texten … vor allem durch die Optik des Lesers erkundet, die Dinge also auf Distanz hält. – Nach Plutarch kommt nun (gerade recht zur Mahd- und Erntezeit) Sören Kierkegaard, den ich seit meiner Studienzeit nie wieder ganz gelesen … den ich inzwischen eher benutzt als bedacht habe. Stichwörter wie »Schauspielerei«, »Angst«, »Abraham«, »Wiederholung«, »Verführung«, »Hiob«, »Lebensstadien«, »Furcht und Zittern«, »Entweder/Oder« evozieren bei mir intensive Lektüreerfahrungen, auch wenn ich diese Erfahrungen inhaltlich nicht mehr im Detail aus dem Kopf auf den Punkt bringen kann. Ich hatte Kierkegaard noch als Schüler in den späten 1950er Jahren gelesen anhand der Werkauswahl von Hermann Diem in der Fischer Bücherei, später dann in der Neuübersetzung von Liselotte Richter, erschienen in engem Druck auf holzhaltigem Papier in Rowohlts Deutscher Enzyklopädie, einer Ausgabe in schmalen Einzelbänden zum Preis von je zwei Mark dreißig, die ich noch heute, verunziert durch die damaligen Unterstreichungen und Randnotizen, im Büchergestell habe und die ich mir nun, ohne äußern Anlass, ein weiteres Mal zum Lesen vornehme; fast bei jedem Umblättern muss ich mir die Nase schnäuzen – die Bändchen sind voller Mikrostaub und riechen ganz ähnlich wie mittelalterliche Folianten. Ja. Doch. Hier gibt es kaum eine Seite ohne tiefere oder wenigstens verblüffende Einsichten, kaum einen Satz, der mich nicht trifft; Sätze wie: »Ich gehe aus von dem Grundsatz, dass alle Menschen langweilig sind … Die Langeweile ist die Wurzel des Bösen.« Wie sollte unter dieser Voraussetzung (so notierte ich bei meinem ersten Lektüredurchgang vor zweiundfünzig Jahren) die Welt zu retten sein? – »Aber das Vergessen ist eine Kunst, die man von vornherein eingeübt haben muss.« – »Es ist ein eigenes Gefühl, wenn man mitten im Genuss darauf achtet, sich zu erinnern.« – »Ob ich dem Teufel diene oder Gott, weiß ich nicht, aber ich habe Recht.« – »Denn wohl sagen die Denker, dass die Wirklichkeit die zunichte gemachte Möglichkeit sei, aber das ist nicht ganz wahr – sie ist die erfüllte, die winkende (wirkende?) Möglichkeit.« Und: »So denk ich mir, dass die Welt untergehen wird unter dem allgemeinen Jubel der witzigen Köpfe, die glauben, das sei ein Witz.« Solch trostlose … solch großartige Lektüre grenzt ans reine Glück; doch meine aktuelle Verstimmung hellt sie nicht auf. Das Glück gleicht der dunstigen Grisaille vorm Fenster, die kaum aufgefrischt wird durch die stampfenden Rhythmen der Streetparade, die von der Stadt herauf in meine Lesenische dringen. – Statt eines Kommentars zu Kierkegaard notiere ich an dieser Stelle, ausgehend von ›Entweder/Oder‹, eine poetische Digression: AchIch ist bekanntlich auch so eine Sache. Ist nie
aaaaaEntweder oder Oder. Ist immer so etwas wie
aaaaaAlles in Allem. Kann ein Vorhofflimmern sein.
aaaaaEin Weihrauchspritzer. Ein Biss. Eine Kluft.
aaaaaDer faltige Schatten zwischen Maske und …
aaaaa… und Gesicht. Aber nie nicht geboren aus brüllenden Hüften.
aaaaaNicht ohne Geheimnis und blankes Entsetzen
aaaaageht’s gleich ab und freut und sorgt und weiß
aaaaadie vielen Nächte. Weißelt mit Schmerzens-
aaaaamit Hungergeschrei die Trägheit der Wände.
aaaaaWendet Geduld und Erwartung in ein klägliches Triumphgefühl.
aaaaaDas hallt nun lange nach und wandert durch
aaaaaeinstürzende Gewölbe. Alles viel zu laut und
aaaaaviel zu schnell – das Hinken ist vom Tanzen
aaaaanicht zu unterscheiden. Aber es gelingt. Führt
aaaaaweiter. Weit hinaus und weit hinaus ins Eis.
aaaaaKnickt jede Vertikale als wär’s bloß ein menschliches Schilfrohr
aaaaaund was in jener Ferne orgelt ist die Wut der Millionenvölker die
aaaaaden Despoten wieder haben wollen. Einen
aaaaaMärtyrer der ihre Sorge über drei-vier Meere
aaaaatragen soll. Der sie von der Freiheit befreit
aaaaaund ihre Not als Notwendigkeit erträglich macht. Macht täglich
aaaaa(wenn es mal so weit ist) ein paar hundert
aaaaaOpfer in Großraumbüros und Arbeitslagern
aaaaaund Versuchsanstalten aller Art. »Smart« ist
aaaaadas Zauberwort und »cool« ist alle Magie und
aaaaa»egal« das Geheimnis. Jeder Abgrund – auch
aaaaadieser – verflacht und reicht in der Runde
aaaaabis zum Horizont. Störende Frageformen
aaaaawerden begradigt durch Ausrufezeichen.
aaaaaDer oftmals nachgebaute Baum der Erkenntnis steht nun als
aaaaaLichtskulptur – blau blinkend – am Eingang
aaaaazum Supermarkt. Hat seinen Horror längst
aaaaaverloren. Mit all den verbilligten Früchten
aaaaaist er eins von vielen Versprechen. Nach
aaaaaoben offen zum Theaterhimmel hin. Doch
aaaaavöllig unempfänglich für Donner und Klagen.
aaaaaAbtrünnig ist alle Intelligenz und bewacht
aaaaabloß noch die paar wenigen Leiber die sie versteht und begehrt.
aaaaaLeiber die keinen andren Liebhaber haben.
aaaaaDie längst nicht mehr sehnen. Die obszöne
aaaaaSzenen und gelegentlich gar eine schöne
aaaaaSeele simulieren. Oder fünf-sechs Pfeile
aaaaadie mitten im Phantomschmerz wippen.
aaaaaAlso lauter bis zum Gehtnichtmehr erprobte
aaaaaDinge. Finge jemand sie im Bild ein – man
aaaaabekäme nur ein graues Flimmern auf den Monitor. Nichts fürs Aug.
aaaaaNichts fürs Ohr. Ein wenig Abschaum von
aaaaader trägen Flut die echolos im Off verrauscht.
aaaaaWofür das alles spricht? Wovon! Von Ebbe
aaaaaund von Niedertracht und wie eins das andre
aaaaanach sich zieht um über Nacht sich hochzuschaukeln bis zum toten
aaaaaPunkt. Unkt da und dort ein jüngeres Orakel
aaaaaist auch des Rätsels Lösung viel schneller
aaaaazu finden. Hier vor Ort wo alles ist was es ist.
aaaaaEine Frage. Die Frage in Form eines Fluchs. Eines Rucks? Eines Wurfs?
aaaaaEines Rufs! Eines unübersetzbaren Namens.
– Um sieben im Frühnebel zur Post, dann zur Bäckerei und zurück ins Haus, wo noch der Geruch und die Wärme von der Aschenglut in den Zimmerecken hängen. Frühstück, Zeitungen, Tagesplan. Ich muss heute zum Einkaufen nach Orbe und Yverdon fahren, brauche Ersatzpatronen für den Drucker, Batterien für die Kamera und die Armbanduhr, will auf dem Frischmarkt Fisch besorgen und beim Italiener an der Zentralgasse in Yverdon – gemäß meiner Wochenliste – sardischen Peccorino, Melanzane, getrocknete Tomaten, Gewürze, Brote, Kaffee, einen klaren Grappa, friaulische (weiße) und umbrische (rote) Weine zum Einlagern. Bis Mittag möchte ich zurück sein.

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