21. März

Das soll heute der astronomische … der kalendarische Beginn des Frühlings sein. Den Vorfrühling hatten wir bereits, er war so freundlich … er war so warm, als wär’s der Frühsommer gewesen. Der wärmste März seit 195… seit Menschengedenken. Ich gehe draußen im Hemd, ich fahre mit offenem Verdeck, in der Wohnung lässt Krys die Arme nackt bis zum Hals, die Fenster zum Süden hin bleiben Tag und Nacht geöffnet. Die Wärme steigt bis zu zwanzig Grad, die Schieferplatte auf dem Gartentisch wird gegen Mittag richtig heiß. Das Licht in seiner Überfülle ist mir des Guten zu viel, macht mir die Konzentration schwer, lenkt mich von der Arbeit ab, zerstreut meine Aufmerksamkeit. – Im ›Kratylos‹- Dialog untersucht Platon eingehend eine Vielzahl sprachspielerischer Wort- und Sinnbildungsverfahren, um deren Tiefsinn und Unsinn zu ergründen; bei Hegel (in den ›Vorlesungen über die Ästhetik‹, III) bleiben Sprachspiele – die rhythmischen wie die lautlichen – der Poesie vorbehalten, für die sie freilich konstitutiv und bezüglich der »Bedeutsamkeit« sogar dominant sind, weil sie deren »sinnliche« Qualität – »allein nur noch das Klingen der Silben« – garantieren. Religiöse und poetische Rede, zum Teil auch die Rede der Philosophie sind seit ihren Anfängen – und gerade in ihren Anfängen – eminent sprachspielerische Redeweisen insofern, als sie dem Spiel der sprachlichen Signifikanten vertrauensvoll Raum gewähren. Eine solche Sprachauffassung setzt ein hohes Sprachbewusstsein voraus, sie nimmt die Autorität des Sprechens nicht für den Sprecher in Anspruch, sie überlässt sie der Sprache. Das heißt, der Sprache werden klangverwandte oder gleichklingende Wörter abgelauscht, deren Bedeutung beziehungsweise Aussage sich erst sekundär ergibt – nicht also weil ein Autor diese oder jene Aussage in vorgegebene Begriffe fasst, nicht weil er diese oder jene Bedeutung durchsetzen will, sondern weil aus sprachlichen Gleichklängen Bedeutung überhaupt erst erwächst. Wenn etwa Gerechtigkeit und Rache auf der Bedeutungsebene in prekärem Verhältnis zueinander stehen, können sie auf klanglicher Ebene ununterscheidbar gleichgesetzt werden – man braucht lediglich die Homophonie von »gerecht« und »gerächt« heranzuziehen, und schon ergibt sich ein Sinn, der den formalen Bedeutungsunterschied dementiert. – Wir erwarten den Angriff vom Tal her. Den Gegner, der uns zweifellos überlegen gewesen sein wird, haben wir noch nicht gesichtet, vermutlich hält er sich in der Tiefe versch… vermutlich liegt er im dichten Bodennebel auf der Lauer. Vater weiß, was zu tun ist. Vater gelingt’s, den Nachbarn für sein Verteidigungsprojekt zu gewinnen … den Zutritt zu seinem Terrain haben wir bereits erwirkt, doch der Neuschnee auf dem abschüssigen Gelände macht uns zu schaffen. Den Lattenzaun umzulegen, war ein Leichtes, schau, nun aber die Kanone in Position zu bringen, nein, ob das gelingt? Wir bugsieren das mächtige, von Maschinenöl triefende Gerät mit dem Flaschenzug auf Rugeln (?) bergan, bis wir … als wir oben sind, bemerken wir den Irrtum. Vater ist zerknirscht, bleibt aber gelassen. Wir haben statt der Kanone die Kamera hochgehievt, eine altertümliche Filmkamera auf drehbarem Gestell, tonnenschwer, mit unzähligen Hebeln, Drehknöpfen, Zahnrädern dran, mit einem Lichtblaumesser, zwei Blitzleuchten, auch einem großen weißen Segel, mit dem wir dem Feind jederzeit unsre Kapitulation signalisieren können. – Krys bringt zum Abendessen Fondue mit … Fondue mit Trüffeln; nicht mein Fall, verfehlte Mischung, der faulige Gestank verhockt sich in den Zimmerecken. Eigentlich wollten wir uns die neue CD von Walter Zimmermann anhören, die heute in der Post war – aber mir verschlägt der schlechte Geruch das Gehör. Doch! Ist so! – Nochmals Frühlingsbeginn. Ich bin schon bei Tagesanbruch im Wald unterwegs. Aus dem verrotteten Laub vom Vorjahr stößt vielfaches Gelb, Weiß, Blau, die kahlen Zweige schwellen, bilden Knoten, die vermutlich schon bald zu Hunderttausenden langsam aufplatzen und kleine gezackte Blätter hervortreiben werden. Die Luft schmiegt sich als kühle nachgiebige … als nachhaltige Kosung an den noch feuchten, aber festen Boden, an Baum und Stein, an Stirn und Nacken. Der vielstimmige Vogelgesang scheint vernetzt … scheint komponiert zu sein wie ein Orchesterwerk – es gibt kaum Überschneidungen, dafür umso mehr Korrespondenzen, klangliche Vorgaben und dazu die passenden Reaktionen, im fernen Hintergrund, wo sonst die Trommeln und die Pauken aufgebaut sind, klopft ein Specht taktgenau seinen begleitenden Part. Rasch nimmt die Wärme zu, kriechende und fliegende Insekten machen sich da und dort erstmals bemerkbar. Mein Schritt kommt mir heute besonders federnd vor; oder ist es der Erdgrund, der bebt?

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