21. November

Die erste – lebensnotwendige – bakterielle Infektion bekommen Neugeborene durch den natürlichen Abstrich der mütterlichen Scheide. Von dort her wird dann erstmals der Darm besiedelt, um allmählich seine Resistenz gegen Infektionen zu entwickeln. Bei Kaiserschnittgeburten entfällt diese Erstinfektion, die übrigens später vorangetrieben wird durch das reflexartige Abschlecken, Saugen, Beknabbern von irgendwelchen verdreckten Gegenständen durch das Kleinstkind; genialer kann man nicht ins Leben eingeführt werden. Und doch ist es – der Dreck wie das Leben – nie nicht zu wenig. – Auch das gibt’s – ganz viele erfreuliche Nachrichten aus dem Freundeskreis aufs Mal. Heute Mails und Briefe von Jean-C. de Tavel, Sabine Mainberger, Thea Dumsch, Theo Leuthold, Annelies Štrba und zudem von zwei Unbekannten, die ebenfalls dazugehören möchten. So etwas (Unheimliches) wie eine Welle des Wohlgefallens. Und zum Brunch kommt auch noch, unangemeldet, Krys hereingeschneit. Zeit und Glück, gemeinsam aufzutauen. – Ausflug ins benachbarte Deutschland mit meiner jugendlichen Mutter und zwei mir nicht näher bekannten ältern Geschwistern. Wir kommen in ein weitläufiges Erholungsgebiet zwischen bewaldeten Hügeln, an deren Fuß dicht gedrängt Hotelbauten, Pavillons, Restaurants, Biergärten, Swimmingpools, Internetcafés, Telefonkabinen aus London, Taxis aus den fünfziger Jahren »der Touristen harren«. Obwohl doch schon viele … viel zu viele Menschen, vor allem die reichen Russen und Chinesen, die Gegend besetzt halten. Wir sitzen zu viert in einem Gartenrestaurant, das in einer riesigen Basilika untergebracht ist, als deren Dach der offene Himmel dient. Aus irgendwelchen Gründen werden wir – doch wer sind »wir« denn eigentlich? – von den Nachbartischen her beobachtet oder beargwöhnt. Ich habe Fluchtgedanken … denke an eine improvisierte Reise nach Venedig, sei’s mit meinem fernen namenlosen Bruder, sei’s mit Röbi Kopp, den ich aus der Schulzeit kenne und der nun, jung geblieben, hier im Biergarten kellnert. Doch die Planung der Flucht kommt nicht voran, es gibt Schwierigkeiten mit der Reservation auf dem Kreuzfahrtriesen, und plötzlich setzt sich die Stalkerin zu uns an den Tisch. Wie üblich trägt sie keinen Namen, dazu aber ihren üppig mit Rüschen besetzten Rock, ihren Kreppschal, ihr Topfhütchen. Wie üblich lächelt sie idiotisch vor sich hin und hat grundsätzlich recht. Wütend packe ich sie, wie gewohnt, am Rüschensaum, hebe sie hoch und trage sie wie ein schlabbriges Bündel erkalteter Innereien durch die Halle, um sie mit Ruck und Schwung aus einem der Fenster zu werfen. Unten klatscht das schwarzgrüne Bündel dumpf auf, und wenn ich nun aus dem Fenster schaue, platzt es … platzt es … platzt es noch immer. – Auch in Rothrist hat er vorbeigeku… vorbeigeguckt, auch in Perugia, in Saint-Sulpice. Und übrigens wie! Mit diesem stumpfen dunklen Blick, der nur vom Brillenglas (und nur von Zeit zu Zeit) ein Glanzlicht kriegt. So gut wie mit Thukydides (dem er doch sein bestes Buch verdankt) hat sich Peter Handke mit mir nicht unterhalten, nie, obwohl wir einander oft genug im Transitraum begegnet sind. Nur ist »unterhalten« nicht das richtigere Wort für das, was zwischen uns läuft, wenn anderswo Krieg ist. Da verserbelt’s dann eben erst richtig. Da fragt ihn dann einer, der keineswegs ich bin, weshalb und wozu er denn überhaupt schreibe. Erschossen, sagt Handke, er sagt es laut genug, erschossen gehörst du, hörst du! Und mich fragt er beiläufig, wie’s wäre … wie ich’s denn fände, wenn er die Bibel übersetzen täte? Die Psalmen, die Propheten statt immer nur diese Dichter, Kinogeher, Schwerenöter. Was? Ja. Doch. Dieses Schlingernde … dieses Schlenkernde von einem Wiedergänger hat er schon, das schlägt selbst auf seine schlichte Rede durch. Von Baum zu Baum, barfuß durch den Wald der korrespondierenden Symbole und … aber immer diese unbedarften Sätze zwischen Feinsinn und Wut, und im Mittelgrund diese kuschelige Kuh, aus deren Glupschaugen unabweisbar die Serviererin vom »Frohsinn« ku… guckt. Derweil der Wirt – wer kennt ihn nicht, den Kalauer Ernst! – komplizenhaft herübergrüßt: Küss die Handke! Also nichts wie los. – Gestern in Montreux zur Präsentation von Vladimir Nabokovs Puschkinkommentar. Empfang im Grand Palace, Begrüßung durch den Verleger K. D. Stroemfeld, Geleitwort des PR-Chefs und Sponsoringbeauftragten von Breguet Watch, Einführungsreferat von Sabine Baumann. Kleines gemischtes Publikum; ich grüße beim ärmlichen Stehapero Arina Kowner, Andreas Breitenstein, Andreas Platthaus, Janko Šmitt, N. A. Bokov, Vera Michalski, höre mir die Klagen einiger glatzköpfigen Jungkritiker über sinkende Honorare und zunehmenden Zeitdruck an, begehe mit einem Fotografen der Tageszeitung ›Le Temps‹ die ehemalige, jetzt als Hotelsuite genutzte Dachwohnung des Schriftstellers im Annexe Cygne, bin überwältigt von der Weite und Erhabenheit des frisch eingeschneiten Alpenpanoramas. Man fragt sich … ich frage mich, wie Nabokov, der Großgewachsene, der Expansive und leicht Erregbare in diesem abgeschrägten Kabäuschen arbeiten und sein Eheleben absolvieren konnte; stelle mir die qualvolle Hitze unter dem Blechdach in den Hochsommerwochen vor. Sage mir auch, dass ich bei solcher Weitsicht und in solcher Erhabenheit nicht schreiben, mich nicht konzentrieren könnte: Mein Blick würde durch das gewaltige Panorama unweigerlich vom Papier, von der Tastatur hochgerissen zum ewigen Schnee auf der gezackten Alpenkette. Nichts für mich. Ich verabschiede mich französisch, steige zu Fuß über zahllose Treppen an zahllosen Spiegeln vorbei ins Erdgeschoss, setze mich mit Nabokovs ›Venezianerin‹ in den Bus, fahre nach Vevey, von dort mit dem Zug nach Lausanne und weiter, wieder mit dem Bus, nach Haus. – Der Dorfbäcker hat heute seine gesamte Tagesproduktion verpfuscht – das Salz vergessen! Allein weil das Salz fehlt, sind die Gebäcke ungenießbar, müssen entsorgt werden. Klar, dass die Ungenießbarkeit einzig auf Gewohnheit beziehungsweise auf enttäuschter Erwartung beruht. Aber ich kann diese faden Croissants und Baguettes nicht herunterkriegen. Bin nicht hungrig genug. – »Wie lässt sich ein Bündel von Aussagen in seiner ganzen Subjektivität umwandeln in ein heterogenes und unvollständiges Korpus wenn nicht durch die Auflösung sämtlicher Regeln, durch die sie hervorgebracht werden, Auflösung dadurch, dass man deren Kompatibilität schwächt, sie in Unordnung bringt, ihre Wirkkraft eliminiert, will heißen: die Inaktualität ihrer Abfolge ist durch den Einsatz der Syntax zu erweitern, um ihre Quantität herabzumindern bis auf den Punkt, wo das Reale sich auflöst?« Wo sich das Reale wie in dieser Aussage von Clément Rosset auflöst, löst sich auch jeglicher Sinn auf. Um den Satz – »Comment transformer en corps hétérogène et incomplet …« – einigermaßen zu begreifen, habe ich ihn aus dem französischen Originaltext übersetzt, ohne allerdings Klarheit schaffen zu können. Oder wird Klarheit hier gar nicht erst angestrebt? Steht das Fragezeichen am Schluss der Sentenz für deren Unverbindlichkeit? Ob man das Anliegen des Autors – Behauptung? Vermutung? Spekulation? Verarschung? – kapiert oder nicht kapiert, ist einerlei. Einerlei, was ich als Leser damit anfange. Die Verluderung der Alltagssprache hat ihre Entsprechung in der anmaßenden Unverantwortlichkeit des intellektuellen Jargons. – Heute Abend kommt die vierte Folge in der TV-Serie über die Seidenstraße. – Bin unterwegs mit meinem jugendlichen Vater auf einer Gebirgswanderung, mit uns zwei halbwüchsige Kinder, vermutlich als Mädchen verkleidete Buben, tummeln sich wie Schmetterlinge. Dabei schwebe ich schwerelos über der Szene, sehe, wie die Sturzbäche nach oben rauschen. Doch eigentlich sind wir ja auf Kreuzfahrt – viele Menschen, alle sehr elegant, fast extravagant gekleidet und frisiert, drängen sich auf der kleinen Luxusjacht. Mein Vater und die Geschwister bewohnen eine Doppelkajüte, es riecht nach frisch verlegten Teppichen, frisch gestrichenen Wänden, Bohnerwachs. Die Beschläge sind aus blinkendem Messing, zum Teil auch aus blinkendem Stahl gefertigt. Matthias Haller, ein Youngster mit pechschwarzem dichtem Haar, in maßgeschneidertem Anzug mit Weste, gelber Krawatte usf., bereitet sich auf sein Referat vor, während wir auf die Trauminsel zuhalten. Ich selbst habe mein Skript vergessen oder verlegt, Haller bietet mir seinen Vortrag an, er selbst müsse sich hier – »ehrlich gesagt!« – nicht mehr profilieren, ich solle doch einfach seinen Text hernehmen und im Plenum vorsingen. Ich stelle aber schon auf den ersten Blick fest, dass ich seine Darlegungen überhaupt nicht verstehe, und ich weiß, es wird unmöglich sein, die Thesen auszuführen oder gar zur Diskussion zu stellen. Ein unerwarteter Zwischenfall hilft mir aus der Klemme. Der Kollege aus der Administration, Marek Steffen, wird bezichtigt, seine Untergebenen permanent zu überfordern und menschenunwürdig zu behandeln. Der Mann gilt als sehr kompetent, effizient, aber hochfahrend; man wägt die Vor- und Nachteile seiner Maßregelung ab – Entlassung oder Verwarnung? Am Rand der Versammlung warte ich auf eine Gelegenheit, mich über den Notausgang und die Feuertreppe aus der Chefetage zu retten.

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