22. Februar

Heute ist der hundertste Todestag von Ferdinand de Saussure und … und hier mein privates Gedenkblatt für ihn. Ich will gleich unterstreichen und einräumen, dass mich sein ingeniöses Sprachdenken schon zu Studienzeiten fasziniert hat und bald auch prägend geworden ist für meine literaturtheoretischen Interessen, später dann für meine eigene poetische Schreibarbeit. De Saussures ›Vorlesung zur allgemeinen Linguistik‹ war für mich das Alternativ-, nein, das Gegenprogramm zu den damals dominanten Verwesern der universitären Literaturwissenschaft … zu Emil Staiger, Walter Muschg, Walther Killy, Wolfgang Kayser, Lucien Goldmann, Werner Krauss und manchen andern, die zur Pflichtlektüre gehörten. Obwohl Ferdinand de Saussure inzwischen als neuzeitlicher Klassiker seines Fachs weltweit bekannt ist, bleibt er nach wie vor (vergleichbar nur mit dem Mathematiker Kurt Gödel) eine der rätselhaftesten Persönlichkeiten im Wissenschaftsbetrieb der europäischen Moderne – ein Mann, der unentwegt forschte und schrieb, und der doch nie ein eigenes Buch zusammenbrachte; einer, dem es permanent vor dem Stocken seiner Feder und seiner Stimme graute; der sich ohne Not eine glanzvolle Gelehrtenkarriere entgehen ließ; dem man immer wieder nachsagte, alkoholabhängig oder gar geisteskrank zu sein; ein Forscher von globaler Wirkungskraft, dessen wegweisendes Hauptwerk erst postum aus Vorlesungsskripten kompiliert und als »Cursus« herausgeben wurde; ein Mensch von glanzvoller Herkunft und eindrücklicher Gestalt, der mit fünfundfünfzig Jahren viel zu früh starb … vielleicht auch sterben wollte. Für Ferdinand de Saussure scheint das Studium »der Sprache« – über das Studium der Sprachen hinaus – immer auch eine Beschäftigung mit Gott und der Welt gewesen zu sein, und im Sprach- und Sprechvermögen der Menschen glaubte er ein allgemeines Funktionsprinzip menschlichen Verhaltens zu erkennen oder jedenfalls eine Analogie dazu, ein variables Modell. Claude Lévi-Strauss hat dieses Modell für seine strukturale Anthropologie produktiv gemacht. Am Beispiel der Dichtersprache versuchte de Saussure aufgrund numerischer, metrischer und lautlicher Analysen die Eigendynamik der Textgenese nachzuweisen, einen autopoetischen Vorgang, der für alle Sprachen Geltung haben sollte, den er aber – auf insgesamt rund 3600 Manuskript- und Skizzenblättern – vorrangig an Gedichten griechischer und lateinischer Sprache überprüfte. Dabei entdeckte er als Grundprinzip poetischer Rede die anagrammatische Entfaltung eines vorgegebenen Themaworts, das durch die vielfältige Versetzung und Vertauschung einzelner Buchstaben oder Buchstabengruppen den entstehenden Text vorantreibt und das letztlich auch in ihm eingeschrieben bleibt. Ferdinand de Saussure hat für dieses Phänomen bei ganz unterschiedlichen Autoren so zahlreiche Belege gefunden, dass er die Anagrammentfaltung für einen universell funktionierenden Mechanismus dichterischer Rede halten durfte. Dazu gibt es inzwischen beliebig viele einschlägige Abhandlungen und zusätzliche Textbeispiele, die das Prinzip des assonantischen Leitwortstils im Wesentlichen bestätigen. Für de Saussure stand aber, nach Jahren des Auszählens und Vergleichens, keineswegs der Mechanismus der anagrammatischen Textgenese im Vordergrund, sondern die doppelte Frage, ob und inwieweit der Mechanismus automatisch abläuft und statistisch erfassbar ist oder ob er vom jeweiligen Autor bewusst eingestellt und gesteuert wird – die Frage mithin, ob und inwieweit Dichtung gleichsam »selbstredend«, also unabhängig vom Willen des Autors entsteht. – An einem Gedichttext, den Ferdinand de Saussure noch nicht gekannt haben kann, will ich den Prozess der Wort- und Versentfaltung anhand eines bekannten Gedichts aus Rainer Maria Rilkes ›Sonette an Orpheus‹ ohne viel Aufwand erproben; das Gedicht hat folgenden Wort- und Lautbestand:
aaaaaSieh den Himmel. Heißt kein Sternbild Reiter?
aaaaaDenn dies ist uns seltsam eingeprägt:
aaaaadieser Stolz aus Erde. Und ein Zweiter,
aaaaader ihn treibt und hält und den er trägt.

aaaaaIst nicht so, gejagt und dann gebändigt,
aaaaadiese sehnige Natur des Seins?
aaaaaWeg und Wendung. Doch ein Druck verständigt.
aaaaaNeue Weite. Und die zwei sind eins.

aaaaaAber sind sie’s? Oder meinen beide
aaaaanicht den Weg, den sie zusammen tun?
aaaaaNamenlos schon trennt sie Tisch und Weide.

aaaaaAuch die sternische Verbindung trügt.
aaaaaDoch uns freue eine Weile nun
aaaaader Figur zu glauben. Das genügt. – Man wird Rilke nicht für einen Worttüftler halten, der mit Buchstaben und Lauten hantiert, um die dichterische Rede nach numerischen, also quantitativen Kriterien auszurichten und unter Kontrolle zu halten. Eher gilt er doch als ein Autor, der beim Schreiben lieber auf Eingebung und Vision zählt denn auf poetisches Kalkül. Umso bemerkenswerter ist deshalb die objektiv feststellbare Tatsache, dass er sein Sonett (wie manche andere Gedichte auch) im Wesentlichen aus einem einzigen Themenwort entwickelt, und dies in einem Kontext, der sich ebenfalls aus nur wenigen markanten Lettern- und Lautverbindungen aufbaut – der sich aufbaut oder der aufgebaut wird? Es ist ein Leichtes, den Rilkeschen Gedichttext auf das Leit- oder Themawort Weite zurückzuführen und ihn als klangliche Emanation dieses Worts zu erfassen. Der knappe Lautbestand von Weite ist in mannigfacher Abwandlung und auffälliger Häufung über den gesamten Text verstreut in Partikeln wie »ei«, »eit«, »te«, »wie«, »wei« usf. und konkretisiert sich in den assonantischen Wörtern »heißt«, »Reiter«, »Zweiter«, »Weide«, »Weile«, »beide«, »treibt« usf. Gleich schon der erste Vers ist ausschließlich von den im Grundwort enthaltenen Selbstlauten e und i getragen, ergänzt durch ie und ei sowie dreimal durch den Zahnlaut t. Geht man das Sonett Vers für Vers und Strophe für Strophe durch, erschließt sich seine Lautstruktur als ein assonantisches Ensemble, das bei all seiner Ausgeglichenheit von bemerkenswerter Vielfalt ist. Handelt es sich dabei nun aber um einen primär sprachlich bedingten Prozess oder um ein bewusstes dichterisches Verfahren? Ferdinand de Saussure bleibt angesichts seines reichen Forschungsmaterials unschlüssig und lässt – für ihn als Wissenschaftler ein bedauerliches Defizit! – die Alternative offen, ob es sich bei den lautlichen Verdichtungen und Verschiebungen in den vielen von ihm untersuchten Texten um zufällige, mithin »unvermeidliche« Lautkonstellationen handelt oder aber um »ein willkürliches Spiel des Dichters«. – M’illumino / d’immenso (wörtlich: »Ich erleuchte mich / mit Unermesslichem«)! Eine schlichte Wortfügung, von Giuseppe Ungaretti arrangiert und zum Gedicht erklärt, vorzufinden in jeder Anthologie moderner Poesie, mit uneinsichtiger Bedeutung, aber mit lautlich geschürtem Sinnpotential. Die beiden Zeilen schließen sich gewissermaßen zu einem Wort zusammen, zu einer in sich selbst verschlungenen Klanggestalt, die um die Laute m und i gravitiert – mil / min / dim, ergänzt und erweitert durch die klangähnlichen Kombinationen mino / menso, umin / immen usf. Man erkennt nun, dass (und wie weitgehend) Buchstäblichkeit und Wörtlichkeit auseinanderstreben können. – Die Verdichtung auf der Lautebene steht auf der Bedeutungsebene im Gegensatz (oder wird in Gegensatz gestellt) zu gewaltiger räumlicher Ausdehnung: Intensität gegen Immensität – ein Kontrast, der auch optisch realisiert wird, kommen doch die beiden Kurzzeilen mitten auf die Buchseite zu stehen, wo sie als kleine schwarze Textinsel von »immenser« Weiße umgeben sind. Manche Faktoren treffen hier auf unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen produktiv zusammen, und dies in einer Weise, die eher vom Sprachmaterial als vom Zugriff des Autors bestimmt zu sein scheint. – Wäre die Dichtersprache tatsächlich und vorwiegend ein sich selbst regulierendes Lautsystem, das sich assoziativ und assonantisch aufbaut, dann müsste der Autor seine Autorität an die Sprache abtreten und auf seine bloß behauptete, nicht wirklich ausgeübte Autorschaft verzichten. – Treibt man diese Überlegung mit de Saussure weiter und überträgt sie von der Sprache generell auf das menschliche Leben und das menschliche Schicksal, dann stellt sich unausweichlich auch die viel allgemeinere Frage nach Zufall und Notwendigkeit, also nach der Freiheit des Menschen. Inwieweit kann ich Autor meiner Biografie sein? Inwieweit ist mein Leben durch vorgegebene, zufällige und bewusst gesetzte Fakten bestimmt? Wie wirken diese Fakten aufeinander ein? Heinrich von Kleist hat diese Lebens- und Existenzfrage in seiner Novelle ›Der Findling‹ beispielhaft abgehandelt, indem er den Protagonisten, Nicolo, mit einem Doppelgänger konfrontiert, dessen Name – Colino – aus den selben, wenn auch anagrammatisch versetzten Lettern besteht. Nicolo selbst findet die gleichsam magische Übereinstimmung heraus und glaubt darin eine höhere Fügung zu erkennen: Was buchstäblich übereinstimmt, müsste auch in der Wirklichkeit … müsste auch im Leben »mehr als bloßer Zufall sein«. Das Französische … nur das Französische hält für diese Übereinstimmung eine exakte klangliche Entsprechung bereit – die Homophonie von »lettre« (Buchstabe) und »l’être« (das Sein). Der Glaube … die Hoffnung, dass der Name buchstäblich »Schicksal« spielt und die Richtigkeit der Doppelgängerei bestätigt, ist bei Kleists Nicolo/Colino ebenso akut wie der Zweifel daran. An diesem Zweifel … an dieser Frage ist Ferdinand de Saussure wohl irre geworden; an diesem Punkt seiner Forschungen hat er eingehalten und möglicherweise resigniert. Doch mit seinem Zeitgenossen Paul Valéry glaubte er in der Sprache das gewaltigste Gesamtkunstwerk der Menschheit zu erkennen und in der Poesie dessen ursprüngliche selbstredende Ausprägung. – Wieder ein großer Traum mit voller Lebensintensität – diesmal bin ich zusammen mit meinem Vater, der etwa gleich alt ist wie ich, auf Wohnungssuche; wir wollen unsre Lebensräume zusammenlegen, brauchen ein Haus mittlerer Größe, das unterteilbar wäre für zwei Familien. Zwar haben wir, beide, keine Familie, ich muss aber zwanzig-, dreißigtausend Bücher unterbringen können, er benötigt mehrere Bastelräume. In einem ziemlich tristen Vorort finden wir … findet sich eine Liegenschaft, drum herum ein verwilderter Garten mit verrostetem, teilweise eingerissenem Stacheldrahtverhau. Das Gebäude ist durch diverse Renovationen und Anbauten verunstaltet, sieht aus wie ein kleiner Provinzbahnhof. Auf der Straßenseite ist ein Kiosk eingerichtet, unmittelbar daneben ein öffentliches »laut stinkendes« Pissoir ohne Tür, aber für alle Geschlechter – hier werde ich (der Kauf ist bereits beschlossene Sache) eine Kompaktanlage für die Unterbringung meiner Bibliothek einbauen lassen. Vater wird zur Straße hin wohnen, ich auf der Gartenseite, wir werden, beide, einen eigenen Hauseingang und auch eine eigene Adresse haben, Bob Gysin hat zwei identische Portale entworfen, etwa in der Art, wie man sie von kleinstädtischen Bankfilialen kennt, eins vorn, eins hinten. Carl Peter, der zufällig vorbeikommt, möchte sich unsrer Wohngemeinschaft anschließen und droht damit, so lange bleiben zu wollen, bis alle im Haus untergebrachten Bücher gelesen sind. »Wir müssen uns also«, fügt er etwas versöhnlicher hinzu, »gleich auf die Socken machen«. Abrupt wache ich auf. Es ist halb fünf Uhr früh – zum Aufstehn zu früh, zum Weiterträumen zu spät. Was tun? Ich dreh mich auf den Bauch und notiere diese paar wenigen Zeilen. Wozu? Für wen? Für mich selbst! Und ich frage mich, da die Träume meine verschlafene Lebenszeit dominieren und seit Jahrzehnten auch erfüllen, was für eine Biografie … was für eine Autobiografie sich ergäbe, sich entfalten würde, wenn ich strikt und einfach die Gesamtheit meiner Träume (wenigstens meiner notierten Träume) zu einem Panorama aufreihte? Da wäre wohl, vermute und befürchte ich, mehr Leben drin, als mein realer CV jemals hergeben könnte. Das Leben ein Traum? Das ist die ältere Frage. Der Traum ein Leben! Das wäre zu klären. – Wie irrig, die Menschenrechte und überhaupt menschliche Normalität auf die Natur abzustellen; als normal, das heißt als gut genug für alle gilt, was die Natur zulässt (ohne es zu fordern). Dazu gehört nicht zuletzt regelmäßiger Sex in diversen – wie es euch gefällt! – Varianten. Doch damit wird dem Menschen bloß ein Tierrecht zugesprochen, denn das wesentlich Menschliche kann nicht die Übereinstimmung mit dem Wollen und Lassen der Natur sein, eher doch das Bedürfnis und auch die Fähigkeit, sich davon abzuheben. In solchem Verständnis wären Asketen, Eremiten, Mystiker, mithin die Heroen des Verzichts, die menschlichsten unter den Menschen. Weltabwendung, interesselose Versenkung, Pazifismus, Besitzlosigkeit, Macht- und Sexverzicht, das Credo quia absurdum, die Möglichkeit als Wirklichkeitsform, das Hungern – im weitesten Verständnis – als Überlebenstechnik, der Tod als Freitod, lauter Verhaltens- und Verfahrensweisen, zu denen der Mensch sich entscheiden muss … zu denen allein der Mensch sich entscheiden kann. Doch dieser Mensch bleibt ein Ausnahmemensch und wird als solcher sicherlich nicht von Menschenrechten profitieren wollen, die auf Menschen wie dich und mich zugeschnitten sind. – Henri Thomas’ ›Vorgebirge‹ ist kein sonderlich starkes Buch, auch Celans Übersetzung bringt ihm keinen Mehrwert ein; es ist, wie fast alle belletristische Prosa, ein erzählender, nicht ein geschriebener Text … ein Text, der das Erzählen wie das Erzählte zwar in Schriftform nachbildet (oder übersetzt), nicht aber selbst als Schriftstück angelegt ist. Dem widerspricht allerdings der Autor, wenn er seinen Erzähler schon auf den ersten Seiten notieren lässt: »Ein Leser, das bin ich, ein Übersetzer, ein Kopist – und das genügt mir.« Daraus könnte man auf eine Erzählhaltung schließen, die primär an der Schrift orientiert wäre, doch die Erzählung selbst wird diesem Ansatz nicht gerecht. Wie der Großteil heutiger Erzählliteratur ist ›Das Vorgebirge‹ fast durchgehend als Rede hingeschrieben, und nicht als Schrifttext abgefasst. Thomas’ Prosa würde als Hörbuch vermutlich an narrativer Qualität und Dynamik gewinnen, es käme beim Vorlesen wohl deutlich besser zur Geltung als bei stillem Lesen. Doch es gibt, davon abgesehen, bei Henri Thomas immer wieder einzelne Sätze oder Abschnitte, die gewissermaßen stehen bleiben … die der progressiven Erzählbewegung widerstreben, sie punktuell aufhalten, bisweilen sogar stören und so vom Plot ablenken; Sätze, nicht einfach hingeschrieben wie die meisten andern, eher graviert, eher fürs Gedächtnis oder für die Nachdenklichkeit bestimmt als zum Überfliegen. Sätze wie diese: »Ich war nicht häufig genug, nicht lange genug Sklave, wer weiß, vielleicht reichte das aber auch für das Wesentliche …« – »Ich – ja, ich wäre der einzige, der sagen könnte, dass es hier nur um das Leben geht, und dass es erstarrt ist, abgewürgt, dass fast jedes ausgesprochene Wort den Knoten fester zieht …« – »Es war kein Mord, es war kein Selbstmord; es war der Tod, der sich mit einer derartigen Leichtigkeit ins Werk setzte, dass ich beim Gedanken daran in einem Raum kreise, wo alles in Einklang ist, alles stimmt, alles abgeschlossen ist, alles ohne Belang.« – Den Traum erzähle ich Krys auf unserm morgendlichen Rundgang durch den Oberwald: Ich befinde mich in einem riesigen Gebäude ohne Ausblick, es könnte ein Kongresspalast, ein zweckentfremdeter Supermarkt, ein Gefängnis, eine Kaserne sein. Um mich herum herrscht dichtes Gedränge, ich werde gestoßen und gezerrt, bin in ständigem ungewolltem Körperkontakt mit lauter Frauen, die ich nicht kenne und die, wie ich, nicht wissen, wie es weitergehen soll, wohin es sie drängt und was sie denn hier überhaupt zu suchen haben. Ein einziger Mann befindet sich im Haus und überwacht das Getriebe, es ist Gruschka, diesmal mit Wuschelkopf und viel jünger geworden seit unsrer letzten Begegnung vor … vor zwanzig Jahren. Gruschka dominiert das Geschehen, ohne auch nur ein Wort zu verlieren, wir Frauen haben uns ihm anvertraut, er wird uns erlösen. Nur aber wovon? Nun kommt er, einen Weg sich bahnend zwischen Schultern und Ellenbogen und wankenden Hüften, kommt auf mich zu, drückt mir drei Francs in die Hand und flüstert mir im Vorbeigehn zu: Da! Ruf den Lehrer an! Und ist schon wieder weg. Und taucht schon wieder auf beim abendlichen Appell im Schlafsaal. Kopf für Kopf zählt er uns ab, und während des Zählens trifft … tritt verspätet die Älteste von uns ein, sie kommt direkt vom Duschen, trägt die feuchten Sachen überm Arm, geht zu ihrer Pritsche, lässt die Seife fallen, sie bückt sich danach und wir starren alle auf den Pissfleck zwischen ihren Beinen. Ich bin erstaunt, dass kein einziges Kichern laut wird, erstaunt noch mehr, dass ich selbst weder kichern muss noch kichern möchte. Aber die Alte hat sich bereits wieder aufgerichtet, steht – wie wir alle – mit bloßem Oberkörper am Fußende der Pritsche, sie hat – wie wir alle – schöne, kleine, schon deutlich nach unten weisende Brüste und kann stolz sein auf ihre glatte, fleckenlos weiße Haut. Noch hat uns Gruschka nicht vollständig durchgezählt, er scheint mit seinem Tablet ein Problem zu haben. Aber wir alle sind uns sicher. Und wie kommt dieser Gruschka, fragt Krys, in deinen Traum? Ein Jugendfreund von mir, sage ich, den ich nie wieder gesehen habe seither. Ja? Aber Gruschka, antwortet sie, war doch … war auch mein Jugendfreund! Und da haben sich nun beide in einem Traum endlich gefunden? – Rasch tritt der Tag nun aus dem Nebelzelt, behauptet sich – für ein Stündchen – in strahlender Klarheit, bewirkt bei mir ein heiles starkes Leibgefühl. Kompaktheit, Spannkraft, Luzidität, Wohlsein, Standfestigkeit. Vor meinem Schreibtisch – vor meinem Fenster – vor dem satten Blau des Himmels turnt der Flachmaler auf seiner Leiter, um mit der Hochdruckpistole die Fassade zu reinigen. Bei dem mörderischen Lärm sinkt erneut der Nebel herab, er bleibt in trägen Fetzen an Dächern und Simsen hängen. Auch meine Stimmung tendiert jetzt zum Grauen. – Habe gestern und heute von Jean Paul zweihundert Seiten vermischte Notizen, Gedanken, Bonmots absolviert – mehrheitlich schwache Geistesblitze, mäßig komisch, stark eigentlich nur dort, wo sich Jean Paul zu Johann Wolfgang von Goethe äußert – da ist er zupackend, treffsicher, hat eine klare unverwechselbare Optik, beweist psychologischen Scharfsinn: Goethe, der sich die Menschen möglichst vom Leib hält, um seine Kälte zu wahren; Goethe, der von sich selbst so spricht, als hätte er immer schon die Wirkung verinnerlicht, die er auf seine Umgebung ausübt; usf. – Ist nicht doch die öffentliche Hinrichtung die humanste Todesart insofern, als sie durch Menschen an einem Menschen in Anwesenheit (und unter dem Triumphgebrüll) von Menschen vollzogen wird – als Enthauptung, Verbrennung, Erschießung, Steinigung oder als kollektiver Lynchmord. Täter, Opfer, Gaffer finden sich zu einem Spektakel zusammen, das einzig unter Menschen stattfinden kann und zu dem es in der Natur – namentlich, was die Gaffer angeht – keinen Vergleich gibt. – Daniel Vasella, Präsident des Chemie- und Pharmaunternehmens Novartis, soll bei seinem bevorstehenden Abgang aus dem Verwaltungsrat mit zweiundsiebzig Millionen Schweizer Franken abgefunden werden; das entspricht ungefähr drei Jahresgehältern des Präsidenten und stellt lediglich – neben seiner Rente und weiteren langfristigen Abfindungen – eine Entschädigung dafür dar, dass er sein geschäftliches Insiderwissen anderweitig nicht verkaufen kann, weil er es laut Statuten nicht verkaufen darf. Was ohnehin als Auflage verbrieft ist, wird also in diesem Fall mit einem zweistelligen Millionenbetrag speziell honoriert, wie wenn dafür irgendeine Leistung – irgendeine – erbracht worden wäre. Angesichts solch dreister Zockerei und im Wissen um beliebig viele Finanzskandale und Korruptionsfälle jeglichen Maßstabs mag man sich mit Karl Marx … frage ich mich mit Karl Marx ganz ohne Ironie (aber nicht ohne poetisches Interesse), was wohl das Geld zu alldem sagen würde, wenn es denken und reden könnte.

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