23. September

Erstmals in diesem Herbst – schwerer Nebel rund um die Uhr; es wird kaum hell tagsüber, und gegen Abend legt sich die neblige Feuchtigkeit wie kalter Schweiß auf die Dächer, in die Gassen. Die Efeuranken, die das Fenster meiner Schreibstube noch immer üppig einrahmen, schimmern unter dem zarten Nebelschleier: Hunderttausende winzigster Tröpfchen, jedes bekommt von der nahen Straßenlaterne ein eigenes Glanzlicht aufgesetzt. – Agnieszka Tyszkiewicz, die junge polnische Freundin des Bäckermeisters, empfiehlt mir eine neu kreierte Spezialität des Hauses, Nussbrot, Vollkorn mit Hirse und Hafer; aber Hafer bekommt mir nicht, schmeckt mir auch nicht, ich wähle wie üblich den »Bastard«, halbweiß, Hefeteig, handgeknetet in Form und Größe eines menschlichen Gehirns; kaufe mir die beiden Regionalzeitungen dazu, heute mit lauter Schlagzeilen aus Italien: Mario Monti, aktueller Ministerpräsident, will entschieden gegen Korruption vorgehn; Silvio Berlusconi, früherer Ministerpräsident, hat, wie er vor Gericht aussagt, seine einstige minderjährige Sexspielgefährtin auf sechsundzwanzig geschätzt – Frauenkenner! Kinderschänder? Mehrere Seismologen – so der dritte Fronttitel – sind zu hohen Strafen verurteilt worden, weil sie vor dem verheerenden Erdbeben von L’Aquila statt einer Warnung eine Entwarnung herausgegeben hatten. – Agnieszka, die all ihre Bücher in Polen zurückgelassen hat, fragt mich nach Leopold Staff, von dem sie mal wieder »ein paar dieser wunderschönen Gedichte lesen« möchte. Zufällig habe ich einen Staff in meiner hiesigen Arbeitsbibliothek; ich werde ihr den Band morgen mitbringen. – Entsprechend verspätet komme ich zum Frühstück. Hab mir irgendwo … irgendwie (Durchzug?) einen Augenkatarrh geholt, keine Schmerzen, keine Rötung, aber das rechte Auge fließt über, ständig und reichlich, und ich kann mir nicht so recht vorstellen, woher die lästige Überflutung kommt – es ist, als platzten von sehr weit oben dicke Regentropfen in meinen Kaffee, in den Brotkorb, in die aufgeschlagen vor mir liegende Zeitung. Dass ich so reich an Tränen bin! – Der Nebel hält sich, erst gegen elf Uhr ist der Tag da. Ich geh auf einen Rundgang durch den nahen Wald, der schmale Pfad, gelb und braun gesprenkelt vom nassen Laub, schmatzt unter den Schritten. Als ich auf die Lichtung mit der Feuerstelle hinaustrete, beginnt es im verhängten Himmel sofort vielstimmig zu girren, sehr laut, sehr aufgeregt, sehn kann ich nichts, ich vermute, ich habe einen Starenschwarm hochgeschreckt, der nun als unsichtbar drohende Klangwolke über der Lichtung kreist. – Meine ›Gegengabe‹ ist in der Erstauflage ausverkauft, was sich beinah wie eine Erfolgsmeldung ausnimmt; könnte auch … dürfte wohl ein Missverständnis sein. – Nach dem Fall der Berliner Mauer hat die DDR-Führung die Trümmer sofort aufsammeln und für einen Auktionskatalog fotografieren lassen; nach vier Tagen war der Job gemacht, die Mauerstücke – eigentlich doch bemalte und beschriftete Gedenksteine – wurden in NY versteigert und brachten Millionengewinne ein, heute sind sie in den Privatgärten der Superreichen in Florida oder Brasilien oder Südafrika als Gadgets aufgestellt; in Berlin soll indes ein kurzes Mauerstück »authentisch« nach jenen Fotos nachgebaut und wieder aufgestellt werden, was wiederum Millionen kosten wird. Potjomkin zu Ehren! – Nur ganz wenige Lektüren bewähren sich in der Wiederholung … gewinnen an Einprägsamkeit, erbringen immer wieder neue intellektuelle und sinnliche Erfahrungen; in diesen Tagen: Paul Klees Tagebücher, die mich schon in frühen Jahren tief beeindruckt haben und die mir bei jedem Wiederlesen erneut zur Premiere werden. Souveräner Humor, umfassende Belesenheit, hohes Musikverständnis, literarische Bravour gehören zu Klees unerschöpflichen Qualitäten; großartig seine Miniaturen … seine wenigen Sätze über Pablo Casals – ein brillantes Medaillon! Dagegen Fernando Pessoa: Einst ein Lieblingsautor, heute gerät mir das Wiederlesen (›Das Buch der Unruhe‹) fast durchweg zur Enttäuschung. Soviel sentimentale, anmaßende, esoterische, schwach gedachte und schwach gebaute Phrasen! Seitenlang ließen sich, zur Abschreckung von diesem Autor, hochfahrende Trivialitäten zitieren; Trivialitäten wie diese: »Was nicht auf einen Wurf gedeiht, leidet unter dem zufälligen Wesen unseres Geistes.« – »Es regnet und meine Gefühle senken ihren rohen Blick auf den Boden der Stadt, auf dem ein Wasser abläuft, das nichts ernährt, nichts wäscht und nichts erheitert.« Usf. Zu Hunderten enthält ›Das Buch der Unruhe‹ pompöse, dabei völlig bedeutungsleere Sätze solcher Art, und ich frage mich schon, was von einem Autor zu halten ist, der sich über weite Strecken im Brustton der Überzeugung auf diesem Niveau verlauten lässt. Und niemand scheint es zu bemerken! Die späte Aufnahme Fernando Pessoas in Deutschland ist durchweg affirmativ verlaufen, ›Das Buch der Unruhe‹ hat hier manch einen enthusiastischen Rezensenten, viele begeisterte Leser, aber keine adäquate Kritik gefunden. Mag schon sein, dass die Übersetzung zur Unerquicklichkeit der Lektüre beiträgt, man kann sich aber … ich kann mir aber keine valable Lesart dazu vorstellen. Anderseits bietet Pessoa im ›Buch der Unruhe‹ punktuell auch starke Passagen und gelungene Formulierungen, die, wenn schon nicht zum Weiterdenken, so doch zum Nachdenken anhalten können: »… denn der vollständige Mensch ist der Mensch, der sich nicht kennt.« – »Werkstatt Leben?« – »Werk statt Leben!« – Was für eine Alternative! Der Gleichklang als Falle.

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