24. August

Das Freundeswort gilt gemeinhin weniger als die Häme des Feinds, der tagespolitisch verortete, leicht durchschaubare Verriss macht einem das Leben schwerer als die einfühlsam und klug argumentierende Ehrenrettung durch den Kollegen. Also sind wir diesbezüglich genau so befangen wie die Unbedarften beim Abfragen oder Nachhören von Tratsch – die besten Nachrichten sind die schlechtesten, die Scheidung, die Krankheit, der Bankrott des Kontrahenten werden zu frohen Botschaften, die wir uns mit aufrichtiger schmerzlicher Anteilnahme gefallen lassen. Hat das alles bloß mit Gedanken-, mit Gefühlsträgheit zu tun? Und ist es nicht (umgekehrt und wiederum unter unseresgleichen) so, dass wir den Gegner dort haben wollen, wo er uns anerkennen muss, wo er uns nicht nicht rühmen kann? Was also, wenn ich Mitleid als Eigennutz oder verkappte Schadenfreude erfahre? Liebe als bloßes Interesse oder ambitiösen Übergriff? Was überhaupt, wenn einer – wie ich – grundsätzlich und unausweichlich von Skepsis geleitet (und verleitet) ist? Trostlose Befindlichkeit! – Schon jetzt bange ich all den Missverständnissen entgegen, die mein Roman fast schon naturgemäß auslösen wird – weil er sie auslösen will. Nur erweist sich ja in aller Regel das Missverständnis keineswegs als produktiv, da nur noch rezipiert wird, was bereits verstanden ist, derweil das zu Verstehende als ungelöstes (einer Lösung unwertes) Problem an den Autor zurückverwiesen, ihm »vorgeworfen« wird – er mache es dem Leser »nicht leicht« oder, schlimmer noch, »unnötig schwer«. – Die vergangenen Wochen in Zürich haben sich in nicht enden wollender Grisaille dahingezogen. Eigentlich war ich da, um mich einmal wieder den Ärzten zu stellen, die Termine standen fest, ich habe sie ungenutzt verstreichen lassen, eine Erstmaligkeit in meiner langen Karriere als Patient. Statt dessen waren endlose Korrektur- und Übersetzungsarbeiten zu leisten, die sechshundert Seiten meiner zweisprachigen Anthologie mit rund zehn Druckfehlern pro Seite, macht rund sechstausend Einzelkorrekturen. – Sommerende! Aber hat’s denn in diesem Jahr überhaupt gesommert? Heute früh – ich bin noch bei Dunkelheit aufgestanden – funkelte der Himmel schwarz wie frisch geschürfte Kohle … funkelte aus allen Sternen. Der Forellenbach, so schien mir, dampfte ganz sacht … dampfte wie eine uralte Orakelschneise. Die Luft stand völlig klar und eisig kalt zwischen den Häusern, wurde dann bald aufgehellt und aufgewärmt von der nachsommerlichen … der frühherbstlichen Morgensonne, die inzwischen schräg im Mittag steht und kurze scharfe Schatten in die Gassen stanzt. Viel Licht. Wundersame Transparenz, die erst am Fuß des Himmels endet, wo das undurchdringliche Blau dieses Tags beginnt und … und ins Endlose steigt. – Ich habe mir vor ein paar Tagen ›Letztes Jahr in Marienbad‹ noch einmal angesehen, dazu den Backstagefilm zur Werkenstehung mit den Kommentaren von Schlöndorff – ein geradezu schockierender Kontrast zwischen Wirklichkeit und Filmgeschehen, höchst aufschlussreich in mancher Beziehung. Der Film als solcher, nunmehr fünfzig Jahre alt, wirkt bei heutiger Visionierung unerträglich pathetisch, auf unbedarfte Weise anmaßend, das Skript (damals mit einem Oscar ausgezeichnet!) gleicht dem Tagebuch eines eitlen Schwerenöters; kurz – auch dies ist ein Klassiker ohne bleibende oder gar wachsende Substanz. Der Film zum Film ist um vieles stärker, aufschlussreicher als Resnais’ aufwendige Bastelarbeit. Und wie viele von den damals Beteiligten, lieber Freund, sind tot! Wozu, für wen überleben? Die Welt, diese, ist die unsre nicht; aber sie hat uns. Zeit, dass wir uns aufmachen … höchste Zeit abzuhauen. – Bin früh morgens unterwegs zu einem Seminar mit Roman Jakobson, der vor seinem Rücktritt noch einmal die »turanische Frage« zur Diskussion stellen will. In der Straßenbahn lese ich einige von Jakobsons Briefen an den Fürsten Trubezkoj, die erst kürzlich aus dessen Nachlass als Reclamheft erschienen sind. Beim Lesen verpasse ich den Halt vor der Eidgenössischen Technischen Hochschule, muss bis zur Platte weiterfahren, von dort zu Fuß zurück zum Hauptgebäude, wo ich nun natürlich zu spät eintreffe. Viele Studierende sitzen eng gedrängt in einem düstern Raum beisammen, zwei Stühle sind für mich reserviert, ich rücke sie zusammen, setze mich, neben mir die Papiere ausbreitend, umstandslos hin. Jakobson – braungebrannt, mit vielen vertikalen Falten im schmalen Gesicht – nickt mir lächelnd zu. Ich beuge mich, zur Seite gewandt und auf beide Hände gestützt, über mein Skript, richte mich aber schon bald wieder auf und rede frei und frontal zum Publikum hin. Statt auf die »turanische Frage« einzugehn, rekapituliere ich mein Leben. Im Anschluss daran plaudert Jakobson mit starkem tschechischem Akzent über seine eurasischen Irrungen und Wirrungen, die er heute ebenso bedauert wie seine einstige Würdigung Stalins als »herausragendem sowjetischen Sprachforscher«. In der Diskussion wirkt der alte Fuchs freundlich, verbindlich, aufmerksam, auch bei unbedarften Fragen oder falschen Antworten behält er sein Lächeln, geht geduldig darauf ein, berichtigt, ergänzt, erläutert. Als ihm dann aber, noch während der Veranstaltung, eine viel zu schöne Post-Doc-Teilnehmerin ihre Visitenkarte hinters Revers steckt, schrickt Jakobson aus seinem Traum auf und schlägt ihr mit seiner schlaffen tintenfleckigen Hand ins Gesicht. Gleichzeitig mit dem Applaus schrillt die Pausenglocke. – Derweil ist wieder eine Woche vorüber, ich räume meine Sachen um, ordne sie neu; in einer vergessenen, wüst zerlesenen Taschenbuchausgabe von Shakespeares ›Mittsommernachtstraum‹ finde ich den Vermerk »Felix 1961«, zwischen dem ersten und zweiten Akt ein Foto meiner Mutter – eine Frau im Glück, souverän, reif, gewinnend. Auf wen mag ihr Blick gerichtet sein? Morgen werde ich sie besuchen. – Im chinesischen Staatsfernsehen werden vorzugsweise »weiße« Ansagerinnen mit »runden« Augen und »langen« Nasen eingesetzt. Die Frauen unterscheiden sich damit deutlich vom chinesischen Norm- oder Durchschnittsmenschen, ihr Aussehen entspricht viel eher dem des »Klassenfeinds« – das monopolisierte Medium markiert damit seine Distanz zum gemeinen Volk. Das diktatorische Regime und seine Repräsentanten stellen sich durch diese Normverleugnung gegenüber der gegängelten Bevölkerungsmehrheit als die Andern, die Einzelnen, die Besseren, die Uneinholbaren dar. Auch eine Form von Repression. – Habe heute im Gartenhaus bei sanftem Durchzug diverse frühe Lebensbeschreibungen von Spinoza gelesen, darunter jene – großartig! – des Franzosen Pierre Bayle. Ich fühle mich in die aktuellen Immigrationsdebatten und Integrationsprobleme versetzt, wenn ich vom geradezu mörderischen Hass erfahre, mit dem der kleine Mann aus dem tiefsten Süden in Holland verfolgt wurde – ein schwarzer Zuwanderer mit Kraushaar, der eigentlich nur »vom Teufel« sein kann. Der Fremde als bedrohlicher Eindringling. Das Genie als Provokation. Der souveräne Einzelgänger, der selbst unter seinesgleichen – in der jüdischen Gemeinde Amsterdams – als Outsider gilt. – Wir brechen auf zur Schlussveranstaltung eines von Schmatz organisierten Literatentreffens. Ich habe mich bereiterklärt, das Schlussreferat zu halten. Eine Stretchlimousine soll uns hinfahren, das Auto ist mit Leuten und Gepäck voll beladen. Ich stelle fest, der Wagen hat einen Heckmotor, und der wird naturgemäß einiges an Wärme erzeugen. Also muss ich meinen Laptop – um die gespeicherten Daten vor dem Schmelzen zu bewahren – aus dem im Fond verstauten Gepäck holen. Ich errege damit einige Irritation – die Kollegen müssen erst wieder aussteigen, damit ich unter der hintersten Sitzbank nach dem Koffer suchen kann. Endlich ist es so weit, ich wiege den Laptop wie ein Baby in den Armen, damit er schön kühl bleibt, und wir fahren los … und schon bald spüre ich, dass meine Daten aus dem Laptop rinnen und sich in meinen Ellenbogenbeugen sammeln. Also ist selbst meine Umarmung zu warm für den empfindlichen Textkörper. Jedenfalls zerrinnt nun mein Skript und zerrinnen auch alle Originalzitate aus William Shakespeare, Barthold Hinrich Brockes und Jack Spicer, die ich zur Stützung meiner These heranziehen wollte. Derweil springt im Heck das Kühlsystem für den Motor an. Zu spät. Bei der Ankunft vor dem Kongresspalast erinnere ich mich bloß noch daran, dass ich alles … alles, was ich vor dem Plenum sagen wollte, vergessen habe. – Hegels Prosa gehört zum Stärksten, was es aus jener an starker Literatur reichen Ära zu lesen gibt; staunenswert genug, dass einer, der so hochfliegend, dabei so konzentriert räsonieren kann, dafür auch noch die passende Syntax zur Verfügung hat und darüber hinaus einen unverkennbaren Personalstil entfaltet. Ich bewundere diese einzigartige Verbindung von höchster Intelligenz, weitreichendem Wissen und sprachlicher Meisterschaft, frage mich bloß, wie viel von mir … wie viel bei mir übrig bleibt bei solcher Bewunderung; oder ihr zum Trotz. Denn wer andere bewundert, ist um so rascher von sich selbst ernüchtert. – Nombrarte. Doch damit endet das Bildnis. Über den Südfuß
aaaaagebeugt nestelt das Monster
aaaaaan der Signatur. Fleiß und Sorge
aaaaamachen das Schwein aus wo’s
aaaaaglückt. Verrückt
aaaaadie Welt und endlich Licht. Das
aaaaaschwebt wie Schwachsinn
aaaaaüber Massengräbern. Gern geschehn
aaaaasolang’s an Stirnen grünt
aaaaawie jedermanns Sieg. Wie jeder
aaaaaden Reue kriegt oder die Angst. Bangst
aaaaanoch um den Feuerstein
aaaaaund kalt der Wunsch nach Funken
aaaaawie sie endlos dunkeln
aaaaastatt nur wieder plötzlich zu tagen.
– Vernissage zur großen Retrospektive von Rolf Winnewisser im Aargauer Kunsthaus; ich bin etwas spät dran, die Eröffnungsreden sind wohl bereits vorbei, von außen kann ich durch die Glasverschalung sehen, wie die Besucher sich drängen … wie sie sich, mit erhobenen Gläsern und gesenkten Köpfen, langsam durch die Räume schieben lassen. Ich halte inne, mag mich nicht gleich unter die Leute mischen; und ich sehe: An der fensterlosen Längsseite des Kunsthauses ist in Großbuchstaben ein vierzeiliger Text – weiß auf grauem Grund − angebracht: ICH / DAS BILD / ICH / SEHE. Der Kunstbetrachter, der in diesem Fall ich bin, wird damit, noch bevor er die Hallen betritt, auf jenes althergebrachte, dem gewohnten Bildsehen zuwiderlaufende Paradox verwiesen, wonach der Betrachter im Akt der Betrachtung seinerseits betrachtet wird, das Bild also nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt des Sehens ist. Das Hinsehen des Betrachters, so räsoniere ich nun weiter, ist mit dem Hersehen des Bilds gekoppelt und findet erst in dieser Koppelung sein Genügen. Der vertrackte Slogan ließe sich ausschreiben mit Sätzen wie »Ich sehe das Bild«, »Das Bild sieht mich«, »Ich und das Bild sehen einander«, »Das Bild macht, dass ich es sehe«, »Ich sehe, wie das Bild mich sieht«, »Das Bild macht mich sehend, indem es sich zu sehen gibt«. Das Bildsehen vollendet sich demzufolge in den unzähligen Blicken des Kunstwerks, von denen der Betrachter gesehen, betroffen, gefordert ist. Solch vieläugiges Blicken ist in diesem Fall die umgreifende auratische Wirkung des Torsos, ist der Gesamtausdruck, der beim Betrachter den Gesamteindruck erzeugt, im Akt der Betrachtung sehend zu werden und zugleich gesehen zu werden.

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