25. August

Heute bei Epikur: »Wenn jemand mit der Realität in Konflikt gerät, wird er niemals die wahre Seelenruhe gewinnen können.« Was bei mir geradezu beispielhaft zutrifft; doch was ist »wahre« Seelenruhe gegenüber unwahrer? Und will ich denn Seelenruhe haben? Meine sogenannte Seele ist ein permanenter Schwindel, ein inneres Schwirren, ein schmerzhafter Druck von hinten … ein Druck vom Gehirn her auf die Augen. Wahr? Unwahr? Jedenfalls wirklich! – Radiogespräch auf DRS 2 mit dem Komponisten Heinz Holliger zu dessen 70. (75.?) Geburtstag. Alle Musik, sagt Holliger gleich zu Beginn, sei »Klangrede« … sei eine autonom sich artikulierende Sprache. »Klangrede« als rein musikalische Lautpoesie? Ich kann mit der Vermengung von Sprache mit andern Medien (Bildsprache, Architektursprache, Zeichensprache usf.) nicht viel anfangen, am wenigsten dort, wo Sprache in Form von Geschichten oder Gedichten nachträglich vertont wird und bloss noch als Lieferant musikalischer Ideen dient. Holliger sagt denn auch explizit, er habe als Komponist eigentlich keine Ideen, er werde vielmehr beim Lesen von Texten und im Gedenken an gewisse Dichter seinerseits zum »Klangredner«. Wie das? Durch Einfühlung? Verwandlung? Er lasse seine Lektüreerfahrungen – vorzugsweise mit Hölderlin, Wölffli, Trakl, Robert Walser – so lange einwirken, bis sie sich verfestigen, bis er sie »im Kopf« habe; erst dann könne die Kompositionsarbeit beginnen, genauer: erst dann beginne sich die Komposition auszuleben. Getragen von rhythmischen und klanglichen Prägungen, »zu neunzig Prozent gesteuert vom Unbewussten« entfalte sich die Klangrede als eigendynamischer Prozess, ohne von ihm, dem Komponisten, beeinflusst oder gar gelenkt zu werden: »Man soll nie Absichten haben.« Die Demobilisierung des Willens ist bei Holliger Voraussetzung allen künstlerischen Schaffens – das Werk wird nicht vollendet, es vollendet sich. Ich kann das unschwer nachvollziehen, meine Gedichte entstehen auf ähnliche Weise, doch frage ich mich, weshalb der Klangredner die Sprache braucht, um Musik »in den Kopf« zu bekommen, da es doch ausserhalb der Sprache und vollends ausserhalb der Texte beliebig viele Klänge und Geräusche gibt, die der Musik viel ähnlicher sind als sprachliche Laute. – Mit dem Wahnsinn ist es so eine Sache – im Wahnsinn haben Kepler, Hölderlin, Garschin, Nietzsche, Wittgenstein, Artaud u. a. m. ihre (mitunter) stärksten Texte geschrieben. Und was heißt schon Wahnsinn? Dass auch der Wahn Sinn machen kann? Und wenn man versuchsweise bedächte, dass – umgekehrt zum üblichen Verständnis – Vernunft und Verstand den Sinn zum Wahn machen beziehungsweise eine spezifische Ausprägung von Wahnsinn sind? Die mörderische Mechanik von »Rädchen und Schräubchen« – so Lenin – in diktatorischen Regimen, aber auch in heutigen Terrororganisationen und Mafiastrukturen sind beispielhaft dafür. Vernunftdenken, kalkuliertes Räsonieren ist Spekulation, versteht sich als progressiv, sucht nach Gesetzmäßigkeiten, die dann als Notwendigkeiten deklariert werden und somit als »wahr« gelten sollen. Das Denken des Wahnsinns kümmert sich darum nicht, macht sich nicht von vorgegebenen Begrifflichkeiten abhängig, lässt sich nicht durch Systemik oder Logik oder Methodik oder gar Nutzanwendung einschränken. Wahnsinnsdenken kennt auch keine Denkverbote oder -tabus, die Frage nach Gott ist hier eine Frage wie jede andere, nicht wichtiger und auch nicht weniger wichtig als die Frage nach dem Treff- oder Überschneidungspunkt von Parallelen. Dostojewskij, oft als Wahnsinniger rubriziert, hat sich für die Formel 2 x 2 = 5 gegen die sakrosankte 4 stark gemacht und damit die sogenannte wirkliche Welt erweitert (virtuell zumindest) zu einer Welt der Möglichkeiten, was zu verstehen ist als die These: Was rational als unmöglich zu gelten hat, ist die »wahre« … die »echte«, vielleicht die »einzige« Möglichkeit. Vermutlich geht es um etwas Ähnliches bei den jahrhundertelangen Bemühungen um einen Gottesbeweis, und vielleicht ist Gott als ein Reales eben durch seinen Möglichkeitsstatus gegeben: Die Möglichkeit als solche (wie der Zufall als solcher) ist ebenso real wie die kalkulierte oder kalkulierbare (gesetzmäßige) Notwendigkeit. So gesehen ließe sich (mit einiger Toleranz) Kurt Gödel und ließe sich auch Johannes Kepler vielleicht doch, und sei’s bloß für die Dauer eines Gedankenblitzes, zumindest in der Intention ihres Gottesgedankens ernst nehmen? – Der Mythos von Narziss kann als Urszene der Bildbetrachtung gelten, einer Bildbetrachtung die zugleich Fremd- und Selbstbetrachtung ist und die nicht zuletzt auch von den Kunstschaffenden selbst praktiziert wird. Ein Bild zu malen, heißt ja immer auch, dem Bild bei seiner Entstehung zuzusehen, es bei seinem In-Erscheinung-Treten zu betrachten, es durch solche Betrachtung sichtbar zu machen. So kann Paul Klee, wenn sich das Bild unter seiner Hand allmählich aufbaut und sich vollendet, noch jedes Mal notieren: »Jetzt sieht das Bild mich an.« In zahlreichen literarischen Spiegelmetaphern und bildkünstlerischen Spiegelmotiven bleibt diese Urszene präsent, wird variiert oder erweitert, findet sich wieder in den Geschichten von Pygmalion, von lebendigen Porträts, von sich jagenden Doppelgängern. Besonders eindringlich hat Rainer Maria Rilke in seinem Sonett ›Archäischer Torso Apollos‹ von 1908 das Bildsehen als ein unausweichliches Gesehenwerden und Gemeintsein ausgewiesen mit dem direkt an den Leser adressierten Vers »denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht«, ergänzt (nach einer unvermittelten Wende vom Ästhetischen ins Ethische, ja Moralische) durch den hochgemuten Imperativ: »Du musst dein Leben ändern.« – Ich komme zu spät zur Vorlesung, versuche die Saaltür möglichst leis zu öffnen, weiß aber nicht, ob sie nach innen oder nach außen (also zu mir her) sich öffnet. Als ich eintrete, ist der Saal verdunkelt, am Vorlesungspult steht Simon Morris in einem eng anliegenden Doppelreiher und doziert mit Powerpointprojektion aus dem Lehrbuch. Anwesend sind fünf, sechs Leute. Ich setze mich in die hinterste Reihe, und nun öffnet sich die Tür erneut, mehrere Studentinnen treten laut schwatzend ein, setzen sich rechts vor mir in die Bank, reden laut über Sex, über die Größe von Vulven und Phallen, inmitten der Gruppe sitzt Krys, ihre Freundin flüstert ihr über die Schulter zu, berichtet ihr kichernd, wie eindrücklich sie das männliche Geschlecht findet, wenn es nur einfach grau und schlaff herabhängt, »so richtig schön der Schwerkraft verfallen«. Das Licht geht an. Der Dozent bittet Krys, seine These zu wiederholen; sie schweigt – ich melde mich zu Wort und stelle eine Gegenthese auf. Daraus ergibt sich eine lebhafte Debatte, in deren Verlauf sich der Hörsaal zusehends füllt und bald schon bis zur letzten Treppenstufe besetzt ist, so dass die Veranstaltung mit Video zusätzlich in einen benachbarten Saal übertragen werden muss. Es geht um das Komma in den oft zitierten Sätzen: »Der Staat, das bin ich.« Und: »Alle Menschen sind, sterblich.« – Statt einfach zu denken oder nachdenklich zu sein, denke ich fast automatisch und fast immer – der intellektuellen Gravitation beziehungsweise Bequemlichkeit folgend – an etwas, an jemanden, denke also unfrei, transitiv, sekundär. Sekundäres gegen primäres Denken; die Philosophie gegen das Philosophieren. – Langer Waldspaziergang, gehen und denken und brabbeln an frischer Luft – es ist jedes Mal wie ein Abstecher ins Paradies: Kleine kühlende Brise, schöne Morgentemperatur, vollkommene Übereinstimmung von visuellen und akustischen Eindrücken, kaum merkliches Wiegen der Baumwipfel, dazwischen träge Wolkenzüge, ferne Käuzchenrufe, das Hämmern des Spechts, ein nahes Schnauben im Unterholz, ein leises Sirren und Knacken ohne bestimmbare Herkunft, und vor allem – kein Mensch außer meiner Wenigkeit, die das Paradies mit jedem Schritt, mit jedem Gedanken stört und gefährdet. – Max Frischs ›Gantenbein‹ wiederlesend – bin ebenso beeindruckt wie bei der Erstlektüre: Gute schnörkellose Prosa (passend zu den Zürcher Konkreten und ihrer »guten Form« entsprechend), fein dosierte Ironie mit sarkastischen Anteilen, präzise Einzelbeobachtungen (Gesten, Gegenstände), ingeniös changierende Erzählhaltung zwischen Wirklichkeits- und Möglichkeitsform, dies alles bei freilich schwachem Gehalt (endloses Gelaber über »die Frauen« usf.) und unscharfer Reflexion. Als ich den Roman gleich nach seinem Erscheinen las, hat mich das offenbar nicht gestört; heute kann mich der Text nur noch als Konstrukt interessieren. – Unversehens gerät der Tag zum Fest! Nach all den grauen Hochsommerwochen nimmt nun, von den Rändern her, frühherbstliche Helligkeit überhand, letzte Schmetterlinge wippen in der milden Luft, was aussieht, als blinzelten tausend bunte Augen über der inzwischen abgemähten Wiese. Rasch steigt … rasch steigert sich die Wärme zur Mittagshitze, die Luft beginnt zu flimmern, die kurzen Schatten stehn wie schwarze Löcher neben den Bäumen und Hecken; auch mein kleiner Garten- und Schreibtisch scheint über einem solchen Loch zu schweben – Assoziation: Mir würde dieses Loch als Grab genügen. Bestattet im tiefsten Mittagsschatten, der ja – aber – auch nur Oberfläche ist. Wie tief rührt Asche? Wie hoch reicht Abgrund? – Und … aber morgen soll, laut Vorhersage, der Sommer in einem monströsen Gewitter zu Ende gehen. Was für ein Aufblühn! Tatsächlich – als wär’s das letzte. Blust als Blast. Dazu nun, irgendwie passend, meine Müdigkeit und Gleichgültigkeit.

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