25. Juli

Mal wieder mein Geburtstag; ich teile das Datum mit vielen, auch mit Elias Canetti – was nichts zu besagen, schon gar nichts zu bedeuten hat. Ich. Och. Weiter nichts. Ich fange ja doch täglich neu mit dem Leben an, und gleichzeitig entferne ich mich daraus. – Bei meiner Mutter mit Simon zum Essen, gut geredet bei gepflegter Küche; Skepsis und Pessimismus sind beim Sohn, bei der Großmutter, beim Enkel, bei der Mutter und bei mir gleichermaßen ausgebildet. Aber wo bleibt der Vater? Die Antwort? Die Wahrheit? – Ein passendes Geburtstagsgeschenk für meine Person hab ich heute Nacht (schlaflos) im Fußbereich meiner Bibliothek gefunden. Es handelt sich um ein vergessenes Widmungsexemplar von Robert Minder (›Glaube, Skepsis und Rationalismus‹, 1974) – eine Monografie über Karl Philipp Moritz! – aus meiner Studienzeit in Paris, als ich regelmäßig Minders Vorlesung am Collège de France besuchte und auch privat mit ihm ins Gespräch kam. Lange mit Mille Fellmann im Gespräch am Telefon, er analysiert gerade die Schachpartien, die einst Philidor gegen einen Automaten ausgetragen und meist gewonnen hat – sein Bericht klingt so enthusiastisch, als wäre er damals, im späten 17. Jahrhundert, bei den öffentlichen Wettkämpfen in Paris dabei gewesen. Kartengruß von Bernhard Schobinger: »Viellieb Felix! Auferstehung – tschüss! Epiphanie – tschüss! Jin-Yang – tschüss! Tschüss! Verhallt das große Lachen im Raum? Oder der Schrei? Herzlich Brrrr….« Boris Vildés Gefängnisbriefe an seine Frau Irène fertig übersetzt und kommentiert. Jüdische und frühchristliche Lesarten der Geschichte vom Turmbau zu Babel und vom Zerfall der Menschheit in Völker mit je eigener Sprache (bei Arno Borst). Mit Krys im Seepark zum Feiern. Doch was gibt’s an einem Geburtstag überhaupt zu feiern? Wen? Ein Leben lang jeweils zum gleichen Datum als »Geburtstagskind « geradestehn zu sollen, ist kein erhebendes Gefühl, jedenfalls nicht für mich, da ich im Ungemach, geboren zu sein, kein Verdienst, keine Auszeichnung und überhaupt nichts Feierliches oder zu Feierndes erkennen kann. Auch Krys muss lang überlegen, wozu sie mir am Geburtstag gratulieren soll, wenn nicht bloß zum Geburtstag; schließlich gratuliert sie mir intransitiv – nicht zur Geburt, nicht zum Tag, nicht zum heute erreichten Altersjahr, sondern einfach, damit Glück gewünscht sei. Gut so. – »Und im Buch, das sich wie eine Kopie ausnimmt, wie eine verkleinerte Kopie, ist tatsächlich das Gedächtnis der Geschichte enthalten, eben weil sie entsprechend der Tradition des Buchs geschrieben und gedruckt worden ist.« Aus diesem Buch, das heißt: aus allen gerade erreichbaren Büchern (von Balzac, Dostojewskij, Sartre, Blanchot, Foucault …) bezieht Jean-Luc Godard in seinen jüngsten Filmwerken – zuletzt in ›Film Socialisme‹ – den Großteil seiner Dialoge und Off-Kommentare, die er im Übrigen umstandslos mit spontaner Alltagsrede amalgamiert, und aus dem Fundus des imaginären Museums wie auch der klassischen Musik holt er sich die audiovisuellen Versatzstücke, aus denen dann die Bildsequenzen und Tonspuren zusammengeschnitten werden – so zusammengeschnitten, dass die Arbeit des Monteurs und die Eigendynamik der Montage kaum noch auseinanderzuhalten sind: > Fremdzitate und Selbstaussagen werden gleichwertig zu diskontinuierlichen Bild-Text-Sequenzen verknüpft. Bei Godard wird diese Art von Hybridisierung besonders augenfällig, da in seinen Filmproduktionen die Fiktionalisierung von dokumentarischem Material einhergeht mit der dokumentarischen Aufarbeitung fiktionaler Entwürfe, und beides führt auf Seiten des Publikums (das dem Großmeister bekanntlich weitgehend abhanden gekommen ist) in die tiefsten Tabubereiche. Denn noch immer mag man in Sachen Kunst (wie übrigens auch im Unterhaltungssektor) auf zweierlei Dinge nicht verzichten: > auf namhafte Autorschaft und auf nachvollziehbare Repräsentation. Anonymität wirkt hier ebenso irritierend wie der Verzicht auf Darstellung und der Entzug von Bedeutung. Vgl. – nach Godard – Eyal Sivan, George Moore (pseudo- bzw. quasidokumentarisch). Ein aktuelles Beispiel noch zum Schluss: David Shields entwickelt in ›Reality Hunger‹ (NY 2010) die zunächst befremdliche, dann aber doch überzeugende These, wonach allein verpönte Literaturformen wie das Imitat, das Plagiat, das Kompilat als echt und originell gelten könnten. Denn nur bereits vorliegende Texte (nicht jedoch textexterne Wirklichkeitsausschnitte) ließen sich ohne Verlust literarisch wiedergeben, und insofern sei die Kopie dem auktorialen Originalwerk überlegen. Es handle sich in diesem Fall – Stichwort: Sampling – um »wirklichkeitsbasierte Kunst fast ohne Kunst«. Das heißt (Zitat:) »Künstler müssen die Dinge nicht durchbuchstabieren; es geht viel schneller, wenn man gleich auf bestehendes Material zurückgreift – Bildmaterial, Bibliotheksrecherche, druckfrische Zeitungen, Vinylplatten usf. Aufgabe des Künstlers ist es, die Fragmente zu mischen (zu bearbeiten) und wenn nötig Originalfragmente zu erzeugen, um die Lücken zu füllen.« > Scharniere, Ösen > Übergänge/Verbindungsstücke. Anhand zahlloser Beispiele, die oftmals bloß als Name-dropping Revue passieren, zeigt David Shields auf, wie »die mimetische Funktion großteils in den Hintergrund gedrängt [wird] durch die Bearbeitung des Originals (des ›real thing‹): Diebstahl ohne Entschuldigung – bewusste, selbstbewusste, offen zur Schau getragene Aneignung«. Dem widerspricht dann allerdings Shields eigenes Verfahren > nämlich einige hundert Texte (Zitate, Exzerpte etc.) ohne Quellenvermerk und Autorennamen aneinanderzureihen und so einen quasi »neuen«, »eigenen« Text durch Kompilation zu kreieren > das ist ja auch das übliche Verfahren des Plagiators, der »sich mit fremden Federn« schmückt bzw. sich eine »fremde Feder« (oder auch mehrere davon) uneingestandenermaßen aneignet > vgl kompilierte/plagiierte Dissertationen etc. Shield spielt nun aber (anderseits) mit eben diesem plagiatorischen Prinzip, Quellen und Zitatgrenzen zu markieren, indem er > im Anhang zu seinem Buch sämtliche Autoren bzw. Titel benennt, die er für sein eigenes Buch – als Original! – ausgebeutet hat, womit aber logischerweise > die Original-Kopie wieder zu einem gewöhnl. kopierten od. exzerpierten od. eben plagiierten Original wird (der Autor fordert die Leser auf, die letzten Buchseiten mit den Quellenangaben herauszuschneiden, um so den Status des »Originals« wieder herzustellen > eine allzu umständliche Enthüllung seiner Verfahrensweise). In einer weiteren argumentativen Wendung kann Shield sodann sinngemäß postulieren, jedes künstlerische Original sei (gerade dann, wenn es auf seine Wirklichkeitstreue abhebe) eine Fälschung. So klingt es denn ebenso süffisant wie unbedarft, wenn dazu an anderer Stelle des Manifests recht unentschieden moniert wird: »Verschwende keine Zeit; halte dich ans Wirkliche. Naja, was ist überhaupt ›wirklich‹? Versuch es trotzdem zu fassen zu kriegen.« Shield opponiert damit natürlich auch, oft ironisch, gegen die nach wie vor geläufige Gleichsetzung von real mit realistisch – vgl. heute das Grassieren von Familiensagas, Vatergeschichten, Kindheitsgeschichten, Mutter/Tochter-Romanen usf. > die Rezensionen wie das allg. Leserinteresse fokussieren sich auf die narrative Darstellungsebene, als wäre sie identisch mit der erfahrenen oder erfahrbaren Wirklichkeit; von daher die trivialen Kriterien, mit denen zeitgen. Erzähllit. gemeinhin bewertet wird: authentisch, lebensnah, anrührend u. ä. m. soll diese Literatur sein (womit Lit. als Kunst faktisch außer Betracht fällt). Auch Shields stellt das Wirkliche als das Wesentliche heraus, unterscheidet aber, wie es sich gehört, Realität und Realismus > Realpräsenz und Repräsentation einerseits, sowie den doppelten Status von Text/Bild anderseits –

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