25. September

… in einem Haushalt ohne Bücher musste ich allzu lang Selbstverständliches lernen und blieb bis zur Lebensmitte gegenüber Gleichaltrigen im Hintertreffen. Dann die Krankheit, auch diese musste gelernt werden, ich hatte sie zuvor – während Jahrzehnten – nicht gekannt, es sei denn als Grippe, als Sonnenbrand. Ich überließ mich ihr schutzlos, ihr und den Ärzten; wenn ich bis jetzt überlebt habe, so das Fazit, hab ich den Ärzten zum Trotz überlebt, habe Fehldiagnosen, Fahrlässigkeiten, Missverständnisse, Operations- und Therapiefehler durchgestanden, hab die Ärzte immer wieder verflucht, nie aber die Krankheit als solche – mit ihr kann ich mich irgendwie abfinden und einigen, kann sie akzeptieren, sie gehört zu dem Wenigen, was ich vorbehaltlos ernst nehme in diesem Leben. Ich kuriere sie und ich kuriere mich einfach dadurch, dass ich mit ihr lebe; dass ich sie meinem Körper zur Abwehr oder Heilung überlasse; dass ich keine Energien in den aussichtslosen Kampf mit ihr investiere; dass ich sie gewissermaßen auf meine Seite ziehe. Selbst meine Schreibarbeit ist, vermute ich, stark durch die Krankheit geprägt, ja-nein, durch die Krankheit bin ich überhaupt erst zu einer Schreibgeste und in eine Schreibbewegung gekommen, die ihren Impuls gleichermaßen aus dem Körper und aus Geistigem, Erlerntem, Erlesenem gewinnt. Nie habe ich die Krankheit zum Thema gemacht, wie’s heute ja üblich ist unter Literaten, aber ich bin dem Tod wie dem Leben näher gekommen und aus jenen äußersten Regionen hab ich wohl dies und jenes ins Gedicht gelassen. Viel ist es nicht. Was zählt, ist nicht das, was drin ist, sondern die Rücksichtslosigkeit, mit der’s zur Sprache gebracht wird. Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit, die souveränsten der Gefühle, gehören zum hoffentlich bleibenden Gewinn, den mir die Krankheit bringt. Der Horror des am eigenen Leib Erfahrenen und an der eigenen Persönlichkeit Verschmerzten ist so groß, dass mir Wertungen, ob negativ oder positiv, kaum noch etwas bedeuten. Rücksichtslosigkeit gegenüber Erwartungen, Gewohnheiten, Ansprüchen und, überhaupt, gegenüber Automatismen aller Art, wie auch Gleichgültigkeit gegenüber allem Bedeutenden sind, lerne ich, Voraussetzung dafür, dass es einem – einem wie mir – gelingt, das zu würdigen, was jetzt und hier vorhanden ist, der Fall ist, ist, also gilt. Konnte ich früher nicht; früher hab ich mich stets an Normen orientiert, war am Normbruch interessiert ohne zu erkennen, dass der Normbrecher sich völlig in die Abhängigkeit der Norm begibt. Außerhalb der Norm zu sein, fällt mit einer mörderischen Krankheit leichter, weil die soziale, psychische Normalität des Krebskranken ohnehin der Ausnahmezustand ist, zu dem es nun nicht mehr die Gesundheit als Maßstab oder Korrektiv braucht. Von daher vielleicht auch mein Interesse für (und meine Gleichgültigkeit gegenüber) Klassifikationen aller Art, also Ratings, Kanons, Trends, Moden usf. Das gilt für die Künste genauso wie für die Alltagswelt. Ob einer im Pop- oder Bank- oder Theatergeschäft ein Star ist, hat mit Qualität, mit Leistung stets zuletzt zu tun, ist vor allem die Folge von Zufällen, Mauscheleien, Bekanntschaften und zeitgeistigen Konstellationen. Unter diesem Gesichtspunkt erweist sich mir die Literatur-, die Kunstgeschichte als ein randomistisches Poem, das viel Unwürdiges in den Kanon hebt, viel Würdiges aber außen vor lässt – das Verdikt ist in aller Regel unumkehrbar; ein kanonisierter Autor, ein kanonisiertes Werk wird nur sehr selten in die Randständigkeit zurückgeführt. Für Eckermann wie – nach ihm – für beliebig viele Exegeten wird jeder noch so dröge Nebensatz Goethes zum Abglanz von dessen Genie, wohingegen der Zeitgenosse Karl Philipp Moritz, ihm in mancher Hinsicht gleichrangig oder gar überlegen, bis heute die Randfigur geblieben ist, die er schon zu Lebzeiten war. Und da dies eben mehrheitlich schon zu Lebzeiten entschieden wird, können solch »mindere« Autoren auch nicht die Wirkung entfalten, die ihnen auf Dauer kanonisches Gewicht und kanonische Präsenz verleihen würde. Ich hab in diesen Wochen (erstmals wieder seit meiner Studienzeit) die Prosaschriften von Eugen Gottlob Winkler und Felix Hartlaub und Hans Erich Nossack gelesen und erkenne in diesen Autoren weit Gewichtigeres, auch Zukunftsträchtigeres als bei ihren weit berühmteren Zeitgenossen, weiß aber natürlich, dass sie für die Literaturgeschichte oder gar den Kanon verloren bleiben werden, derweil beliebig viele Mediokren ihren festen Platz im Lehr- und Lesebuch behalten. Als rücksichtsloser und gleichgültiger Leser kann ich mir wohl meinen eigenen Kanon bilden und die Ratings der Literaturgeschichte irrelevant finden, muss aber auch zusehn, wie eine Herta Müller zum Nobelpreis und ein Peter Handke zu sonstigem Weltruhm kommt – beides verdiente Autoren, beide von mittlerem Maß, beide einem Winkler oder Hartlaub deutlich unterlegen. Den Blick auf heutige Ruhmesblätter zu richten, erübrigt sich. Ich passe: Ich passiere, weil ich nicht passe. Gut genug? Es ist – noch eine doppelte Wortbedeutung – auszuhalten. – Ruhige Tage im Jura, diskrete Sommerherbstwende, ein kleines Feuer im Kamin genügt zum Beheizen … zum »Überschlagen« der Räume. Ich bastle weiter an der russischen Anthologie, die schon im Frühjahr 2011 erscheinen soll; Theo Leuthold bemüht sich um die typografische Begradigung meiner ›Steinlese‹ für Onomato; nächste Woche soll ich die Gedichte im hiesigen Radiostudio sprechen, Axel Grube wird die Aufnahme bearbeiten und durch kürzeste Interludien auf einer alten Leier ergänzen, um daraus eine CD (als Beigabe zum Buch) zu machen. – Wir sitzen im Freien, unter grauem Himmel und vereinzelt fallendem Laub, an unserm langen schmalen Tisch. Auf der einen Längsseite in der Mitte hockt verquält mein Vater und murmelt etwas über Landesverteidigung vor sich hin. Über Luftabwehr. Vor sich hat er einen großen würfelförmigen Monitor, dessen Mattscheibe ich – da ich gegenüber sitze – nicht einsehen kann. Ich sehe nur dessen bläuliches Flimmern auf Vaters Gesicht, das aus einem zahnlosen Mund von »zwei oder drei« Flugzeugen faselt, die es für die Verteidigung der Schweiz bräuchte, also etwa gleich viele wie für Honduras, Ecuador und noch einen mittelamerikanischen Staat zusammengenommen. Ein interessanter Film! Findet Hans Jost Frey, schade, dass wir ihn hier nicht in Projektion vorgeführt bekommen. Aber, entgegne ich, du hast doch diese schönen hohen Räume bei dir zu Hause. Also ja, wenn ihr meint, gehn wir zu uns, sagt Frey, wir müssten dann halt ein paar unsrer Bilder abhängen und … und die Wände sind nicht ganz glatt und sind außerdem leicht getönt. Wir wechseln das Zimmer, mit uns kommt ein halbwüchsiger Junge, schmal gebaut mit auffallend glattem und tiefschwarzem Haar, vielleicht Freys Sohn. Er soll nun seine Strafe bekommen, und ruhig bereitet er sich darauf vor. Mein Vater, jetzt als Unbekannter verkleidet, aber dennoch sofort zu erkennen, mahnt mich zur Eile. Ich soll mich ebenfalls für die Exekution bereithalten, doch zuerst ist der Junge dran. Ich akzeptiere die Strafe, ohne zu wissen, von wem sie kommt und wofür ich sie abzugelten habe. Beide sollen wir, der Junge und ich, ausgepeitscht werden mit einer Geißel, an der mit mehreren Riemen riesige schwammförmige Brocken befestigt sind. Die Brocken sehn aus wie gewaltige Brothappen und sind in Plastik eingeschweißt, auch sind sie, sagt der Exekutor, getränkt mit einer scharfen Säure. Offenbar ist das Prozedere nun doch nicht allzu dringend, man setzt sich erneut zu Tisch, kommt ins Plaudern. Mit nacktem Oberkörper wird der Junge abgeführt, und bald wird’s auch für mich an der Zeit sein. Der Exekutor beginnt wieder zu drängen. Die Säure dürfe auf keinen Fall verdampfen, sonst bliebe die Wirkung aus. Und noch immer weiß ich nicht, wie und von wem die Bestrafung nun durchgeführt werden soll. Ob ich mich ausziehen muss, wie lang das Verfahren dauern wird, wie viele Hiebe ich aushalten muss. Doch es kommt keinerlei Aufregung auf. Der Henker hantiert ruhig mit seinen Utensilien, hat jetzt auch die Injektionsspritzen bereitgelegt. Ich soll mich mit leicht gespreizten Beinen und entblößtem Rücken hinstellen, mich während der Geißelung auf dieses Mäuerchen hier stützen und … los geht’s. – Schubert, Mahler hören (damit alles spricht); im TV ein Patient, der nach einer schweren Hirnerschütterung keine menschlichen Gesichter mehr wahrnehmen, sie nicht unterscheiden, nicht erinnern kann; auch seine eigene Tochter erkennt er, mit aufgerissenen Augen, nur noch an ihrem Atem, an ihrer Stimme, an ihrem Körpergeruch. Sehen ohne zu erkennen! Auch eine Art von Blindheit.

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