26. Dezember

Heute früh – nach langem Feiern und Reden und Schenken und Danken mit Krys – bei wehendem Schnee ein Rundgang durch leere Straßen; auf halbem Weg eine liegen gebliebene Straßenbahn, ohne Strom, aber auch ohne Fahrgäste; das Fest der Freude und Freunde ist einigermaßen glimpflich an mir vorübergegangen und … aber hat es denn überhaupt stattgefunden? Ich war die ganze Zeit … ich bin ja zur Zeit ziemlich am Schreiben, mithin auch am Lesen und Lernen, nutze die lange Weile der grauen Tage für allerlei Exkurse, in die Stoa, in frühkindliche Erinnerungen, in die Puschkinzeit, in die Anfänge der Pataphysik, in den Dolderwald, auf den Balkon, wo auf Augenhöhe noch immer … seit dreizehn Jahren auf einer Emailplatte (jetzt unter halbgefrornen Schlieren von Neuschnee) mein Leitspruch verzeichnet ist: Nein das Feuer trifft die Wahl! Und morgen kommen wieder die Zeitungen, kommt die Papierpost mit Rechnungen, Mahnungen, Einladungen, Anzeigen, Angeboten. Alles wie immer. Nichts wie los. – Es gibt eine Prosa des Erzählens und/oder des Aufzählens. Wo aufgezählt wird, fehlt es in aller Regel an Handlung, Ereignis, Plot; klar bei Gustave Flaubert – Bücher »über nichts«, die sich als Listen von Namen, Fakten, Themen erweisen – Bouvard, Antoine, Hérodias usf. Moderne Meister der Aufzählung sind James Joyce, William Faulkner, Jorge Luis Borges, Julien Gracq, Giorgio Manganelli, Danilo Kiš, Zygmunt Haupt, zu den Altmeistern gehören Rabelais und Grimmelshausen. Das Aufzählen scheint lyrische Ursprünge zu haben (versus), das Erzählen eher dramaturgisch bestimmt zu sein. Die Erzählung erfordert Handlung als Kontinuum, Spannungsbögen, Motivierungen, Aktion/Reaktion, psychologische, lebensgeschichtliche Entwicklung, Schürzung/Auflösung von Konflikten usf. – gilt allgemein für den historischen, sozialen, politischen, familien- oder epochengeschichtlichen Roman, mithin für die große Mehrheit narrativer Prosa. – Gestern am frühen Abend unangemeldet der Besuch von Krys, sie kommt mit einem erfrischenden kleinen Christrosenstrauß an. Es gibt (da ich vor den Feiertagen bei Fabiello einkaufen war) eine kleine italienische Käseplatte, Olivenbrot, geröstete Auberginen, knackige schwarzgrüne Tomaten; dazu offeriere ich einen leichten Rotwein aus Agiez. Wir reden, diskutieren, hören von Pierre Boulez Werke zu Texten von Mallarmé und Char. Der Abend wird lang … wird länger. Krys setzt weißen Chinatee auf, dazu habe ich Bioaprikosen, Walnüsse, Pistaziengebäck – alles kommt zufällig zusammen, alles stimmt und gefällt. Wir hören ›Pli selon pli‹, später lese ich uns aus meinem ›Alephbet‹ vor, einem mehrstrophigen, schon älteren, aber noch nicht veröffentlichten Gedicht, das ich aus den Namen, Zahlenwerten und Bedeutungen der hebräischen Schriftzeichen litaneiartig entfalte. Dabei stellt sich erneut die seltsame Erfahrung ein, dass mir … wie mir ein eigener Text beim Vorlesen entgleitet, fremd wird, dass ich ihn sozusagen buchstabieren oder aus der gedruckten Vorlage heraussuchen muss – Strophen wie diese: . – Pelle oder Gruft. Beides ist eigens
aaaaafürs Leben. Wie’s drängelt
aaaaaund gefällt. Wie’s weilt und doch nur will. Nimm
aaaaaals Vergleich dazu die Langsamkeit
aaaaamit der das Engelshorn sich aus dem stumpfen Messing
aaaaaringt. Auch dieses Quietschen ist – schau hin –
aaaaaeine Form des Verschwindens. Wie
aaaaagesungen. Und verwunden aber wieder nichts.
aaaaa(Mund. 80)

aaaaa’Ajin. – Nie ist Kain nicht der Bruder. So wie kein Meer
aaaaanicht von Homer ist. Denn alle Trrrrä-ränen
aaaaaperlen wie man’s weiß
aaaaavom selben Ruder. Außer Abels. Mit der Axt
aaaaaim Nacken hat der Bruder des Bruders
aaaaadas Plä-lärren verlernt. Und
aaaaaeben noch zu Zeiten.
aaaaa(Aug. 70)

aaaaaSámech. – Was da wuchert wie Schaum und
aaaaaoder Wolke ist – statt furchtbar Same –
aaaaabloß ein Botenstoff. Der flieht
aaaaaviel lieber als zu glücken. Alles Überflüssige
aaaaahat keinen Schimmer mehr
aaaaavon Himbeergrün und oder irgendeinem
aaaaaSinn. So trifft er zwar
aaaaadaneben und. Aber gewinnt.
aaaaa(Stütze? 60)
– Noch beim Lesen beginnt der Kopf zu rumoren, die Schläfen kommen ins Flattern, wie eine eng anliegende Schwimmkappe zieht sich die Migräne zur Stirnmitte hin, von dort hinauf in den Scheitel. Plötzlich nun also dieser Schmerz, die Irritation, die Müdigkeit – wodurch aber ausgelöst? Zu viel Alkohol? Zu viel Musik? Zu viel Anspannung im Guten? So als hätten wir gemeinsam Weihnachten gefeiert. – Noch eine Merkwürdigkeit – dass mein Schreiben mehr von künftigen (zu erwartenden, zu befürchtenden) Lebenswendungen geprägt ist als von dem, was gewesen ist und was ich geworden bin. – Der Vereinzelte kann nicht der Beliebige sein. Kann die Beliebige die Geliebte sein? Doch wer stellt die Frage – sie oder ich? – Die dunklen Wochen um Weihnachten herum gelten als die hohe Zeit depressiver Niedergänge. In den Medien werden vermehrt Antidepressiva angeboten, neuerdings gibt es auch mobile Leuchtkörper, die natürliches Tageslicht abgeben und damit die Stimmung heben. Die Wirksamkeit dieser Lichttherapie hat sich angeblich in diversen wissenschaftlichen Testreihen bestätigt. Mir ist das rätselhaft. Auf mich wirkt Licht – helles Licht, Mittagslicht, Sommerlicht – allemal bedrohlich, Licht »schlägt mein Inneres nieder«, macht mich reizbar, lenkt mich ab und bewirkt zudem, dass ich selbst mich verschließe. Im Unterschied zu all meinen Bekannten liebe ich die finstere Winterzeit, die Endzeit des Jahrs, die Zeit der längsten Nächte – für mich die Zeit der höchsten Konzentration. Wenn mal wieder an einem grauen Dezembertag für eine Stunde die Sonne in Erscheinung tritt, erschreckt und provoziert mich die plötzliche Helle, und um mich vor ihr zu schützen, lasse ich jeweils gleich die Storen herab oder schließe die Fensterläden. Die schattenlose Mittagshelle empfinde ich als einen Moment des Unheils, und generell verbindet sich für mich strahlendes Licht mit der Vorstellung einer unmittelbar bevorstehenden oder grade eben vorgefallenen Katastrophe. Mir ist ganz und gar unbegreiflich, dass der Ausruf »Mehr Licht!« ein letztes Wort gewesen soll. – Paul Valéry, einer der klügsten, vielseitigsten und einflussreichsten Literaten seines Jahrhunderts, war zeitlebens ein Anfänger und ist bis zuletzt ein Autodidakt geblieben. Valéry war ein nomadischer Denker, konnte sich für alles interessieren, vermochte sich in alle Wissensbereiche – von der Mythologie über die Mathematik bis zur Medizin – kurzfristig einzuarbeiten und entwickelte dabei als seine Spezialität das Generalistentum. Die in mehreren Bänden unterm Titel ›Variété‹ gesammelten Essays, Abhandlungen und Vorträge sind das bemerkenswerte Zeugnis dafür. Nach eigenem Bekunden hat Valéry ausschließlich »im Auftrag« und »auf Anregung« von außen geschrieben, hat sich seine Themen also diktieren lassen, statt eigenen Interessen nachzugehn. Der vorgegebene Ausgangspunkt seines Nachdenkens liegt in aller Regel irgendwo an der Peripherie seines intellektuellen Einzugsgebiets, und von dort hält er dann in assoziativer Annäherung auf die Mitte zu. Egal, wovon oder von wem er handelt, stets operiert er von einem externen Ansatz her und entfaltet, lose daran anknüpfend, seine eigenen, frei sich auslebenden Gedanken. Gedanken sich ausleben lassen! Darauf legte Valéry besonderen Wert – intellektuelle, physiologische und auch kosmische Vorgänge analog zu verschalten, sie freizusetzen und gleichzeitig sie zu lenken und zu vernetzen. Ob er sich an einen verstorbenen Kollegen erinnert, ob er ein Vor- oder Nachwort verfasst, ob er über Descartes oder Bossuet oder Stendhal schreibt, ob er einen »Gedanken« von Blaise Pascal oder die Konsistenztheorie von Edgar Allan Poe aufgreift – es geht ihm weniger darum, über den vorliegenden Gegenstand zu schreiben als ausgehend von ihm. Dieses Verfahren korrespondiert mit seiner Poetik, die bekanntlich darauf angelegt ist, einen »vorgegebenen Vers« (vers donné) zum Ausgangspunkt und Impulsgeber für die Niederschrift eines Gedichts zu machen, das aus lauter »berechneten Versen« (vers calculés) bestehen soll. Im Bereich der Poesie wie auch der Essayistik erweist sich diese Technik als äußerst produktiv, erbringt sie doch, weit über den jeweiligen Anlass hinaus, Einsichten und Formulierungen, die als eigenständige Sentenzen – nicht selten in völlig anderm Kontext – bestehen können. Hier ein paar Beispiele aus ›Variété‹ I und II. – »Das Wort ist das Medium unsrer Vervielfachung im Nichts.« – »Mythos ist die Bezeichnung für all das, was nicht existiert und nur deshalb überdauert, weil sein Urgrund im Wort liegt.« – »Es gibt keine Rede, die so dunkel, keine Sage, die so bizarr, keine Behauptung, die so inkohärent wäre, dass man ihnen keinen Sinn beimessen könnte.« – »Die Freiheit ist, alles in allem, nichts anderes als der Gebrauch des Möglichen.« – »Das Gedicht bringt unsern Organismus unmittelbar ins Spiel.« – »Wenn Pascal ›fündig‹ wurde, so sicherlich deshalb, weil er nicht mehr gesucht hat.« Usf.

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