26. Juli

1) das Werk als Repräsentation, begriffen als Fiktion, mithin als eine (wie immer geartete) »Kopie« der außerkünstlerischen Wirklichkeit; 2) das Werk »als solches«, begriffen in seiner Materialität und Faktur, ist unmittelbar präsent > Bildträger, Farbauftrag bzw. Schriftbild, Papier, Skript, Buch haben – obwohl sie funktional bloß der Darstellung dienen – Ding- bzw Originalcharakter, die Repräsentation gewinnt in ihren materiellen Fakten/Elementen > Realpräsenz > ist dann nicht mehr bloß »Kopie« der außerkünstlerischen Welt, sondern wird ihrerseits zum Original; z. B . Beschreibung/bildnerische Darstellung einer Landschaft ist in Bezug auf diese Landschaft repräsentativ = eine »Kopie« wie exakt od. inexakt auch immer die Kopie (in weitem Verständnis) einer solchen Landschaftsdarstellung/- beschreibung ist »als solche« ein Original. Den Kunstschaffenden empfiehlt Shields zur Aneignung und Darbietung des Wirklichen die angeblich »postmoderne« Technik des Montierens, wie er sie exemplarisch in der Collage, im filmischen Zusammenschnitt und im musikalischen Sampling realisiert sieht, ohne (sich) daran zu erinnern, dass eben diese Technik schon vor einem Jahrhundert die Künste der klassischen Moderne entscheidend geprägt hat. Auch ohne daran zu denken (so scheint es), dass diese Verfahren stillschweigend, nämlich ohne entsprechende Begründung oder gar Theoriebildung schon immer wirksam waren. Da »Gott« damals – z. Z. des künstl. Modernismus in Europa – bereits totgesagt war, musste auch der nach dessen Vorbild agierende Autor seine »schöpferische« Autorität schrittweise abtreten, musste den produktiven Impuls, der zuvor aus der außerkünstlerischen Realität erfolgte, an das »Rohmaterial« abtreten – an die Sprache, die Farben, die Formen als solche, und generell an Vorgaben, die als literarische, bildnerische, musikalische Versatzstücke schon vorhanden waren und nun gewissermaßen dazu einluden, »vereinnahmt« zu werden. Ein Verfahren (genauer: ein Verhalten), das unter manch andern Autoren der europäischen Moderne Paul Valéry oder Hugo von Hofmannsthal besonders prägnant auf den Punkt gebracht haben. Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang das Vermächtnis Friedrich Nietzsches, das als letzter Wunsch in einem seiner letzten Briefe festgehalten ist: »… dass im Grund jeder Name in der Geschichte ich bin.« Ich sei. Ich als Kopie und – alle andern als weit entrückte Originale. – Mit meinem Kleinwagen – es ist ein Hybridmodell aus Bauelementen des Fiat 600 und eines alten Austin Morris – starte ich vom Einstellplatz unter der weit ausschwingenden Treppe zur Reise nach Jerusalem. Klar ist, ich muss mir, bevor ich in dieses kommende Leben abhebe, einen Namen machen. Eigentlich doch aber seltsam, dass einer sich selber den Namen gibt, sich einen Namen als Programm gibt, sich eigenhändig tauft. Es muss sein. Nachdem ich bisher unter einem fremden Namen zugange war, dem Namen, den meine Eltern mir in furchterregend guter Absicht verliehen hatten, will ich nun endlich einen unverwechselbaren, nur bitte keinen sprechenden Eigennamen haben. Erst dann kann ich mir meine Identitätspapiere ausstellen, mich verabschieden, mich auf den Weg machen. Die Reise wird sich hier, und nur hier, auf dem Monitor abspielen und dürfte sich, fürchte ich, durch enorme Räume lange, vielleicht lebenslänglich hinziehn. Unterwegs, ehe ich das Land verlasse, mache ich Halt bei meinen Eltern, die seit kurzem verstorben sind und nun eine gigantische, mit dem Hauptbahnhof zusammengebaute Residenz bewohnen. Zu zweit hausen sie hier in getrennten, weit auseinander liegenden winzigen Zimmern, die bis zur Decke mit Nippes, Erinnerungsstücken, Ansichtskarten, Klöppeleien, Fotoalben und ähnlichen Dingen angefüllt sind. Die Zimmerchen, vermutlich ehemalige Gesinderäume, sind umgeben von lauter leeren Sälen und verbunden durch hallenartige Korridore. Ich verabschiede mich, diesmal für immer … diesmal for good von den beiden, die reglos und wortlos vor mir stehn, als gehörten sie zum Mobiliar. Als ich mich durch den mächtigen dunklen Flur zum Ausgang bewege, bemerke ich, dass von der Bahnhofseite ein Trupp junger Rowdies das Gebäude zu stürmen beginnt. Rasch verlasse ich meinen Standort, hole mir am Kiosk eine Packung Fishermen’s, erkundige mich bei der Informationsstelle nach dem Weg ins heilige Land, bekomme aber nur vage Auskünfte – ungefähre Richtung, ungefähre Distanz. Auf gut Glück fahre ich los, komme nach langer stockender Fahrt allerdings nur wieder beim Bahnhof an. In der Brasserie frage ich nun den Barmann nach dem Weg und bekomme bereitwillig Auskunft, merke aber bald, dass mir der Mann nur einfach meinen Heimweg erklärt, mit allen Verzweigungen, mit vielen Durchfahrtsorten. Wie weit es nach Jerusalem ist, weiß er allerdings auch nicht. Kommt darauf an, meint er, wie weit von wo. Ich verlasse den Bahnhof, bin einigermaßen verwirrt, suche und finde mein eingeschneites Auto in einer Nebenstraße, kratze das Eis von der Frontscheibe, taue mit meiner Atemluft die Türklinke auf, zwänge mich in das enge Cockpit. Die Hinweise des Barmanns habe ich bereits vergessen, ich fahre aufs Geratewohl weiter, beschreibe eine weitläufige Kurve durch die unansehnliche karge Landschaft, bis ich, schon wieder total desorientiert, in einer Provinzstadt Halt mache, um mich erneut nach dem Weg zu erkundigen. Ein hilfsbereiter Passant klärt mich auf, es sei noch sehr weit bis Jerusalem, und reicht mir einen Folder mit Straßenkarte, Hotelliste, Arztadressen durchs Fenster. Erst als der Mann schon weg ist, bemerke ich, dass auf der Karte zwar Straßen und Autobahnen und Tankstellen und Schönheitsfarmen eingezeichnet sind, dass aber Ortsnamen, Distanz- und Richtungsangaben fehlen. Ich könnte also immer auch anderswo sein und unentwegt anderswohin fahren, und schon rutscht mein Wagen auf der vereisten Landstraße unaufhaltsam in den Gegenverkehr. Eine Panzerkolonne der syrischen oder ägyptischen Armee schrammt ratternd an mir vorbei … oder ich an ihr. Als ich endlich – jetzt! – aus dem Koma erwache, bin ich längst tot. Jerusalem bleibt fern. – Wieder ist eine arbeitslose … eine arbeitsschwache Woche vorbei, ich realisiere allmählich, was es bedeutet (für mich bedeuten wird), aus irgendwelchen Gründen – Krankheit, Müdigkeit, Blödheit – nicht mehr arbeiten zu können. – Zeitgeist, schlechte Zeiten, Endzeit, Katastrophenzeit usf. – die Zeiten, alle Zeiten und deren Ungemach sind menschengemacht … sind also menschengerecht, bleiben aber (da auch Gott menschengemacht ist) ungerächt. Noch eine Katastrophenmeldung (Kommentar eines Finanzexperten aus den heutigen Radionachrichten auf DRS): »Wir können der Verlust vom vergangnen Jahr, wo uns besonders hart getroffen hat, nicht mehr ausgleichn.« Bankenkrise, Expertenkrise, Sprachkrise. – Eine Nachricht aus dem hiesigen Kulturbetrieb: Sansibar meets Obwalden in Ur-Switzerland – touristisches und kulturelles Großereignis an diesem Wochenende in der Innerschweiz; eine Sängerin aus Sansibar präsentiert »authentisches musikalisches Gut«, das sie aus »vielen Kulturen« – Indien, Afrika, USA – zusammengetragen hat. All-in-one als Betriebsprinzip, Unifizierung gegen Differenzierung, kulturelle Unterschiede werden verschmiert oder verschliffen, und keiner scheint zu merken … keiner scheint zu bedauern, dass damit das Eigene und das Fremde gleichermaßen abgewertet wird. – Karl Barth, Karl Jaspers, Edgar Salin, Adolf Portmann, Werner Kägi, Hans Urs von Balthasar, Arno Borst, René Etiemble, Michel Foucault – meine akademischen Lehrer und Vorbilder … letzte Gelehrtengeneration, die ein inzwischen suspekt gewordenes Generalistentum als ihre Spezialität durchgesetzt hat. – Es geht mir beim Schreiben ähnlich wie dem Bildhauer, der vom ungeformten Stein sehr viel wegspitzen muss, um die anvisierte Figur herauszuarbeiten. Während Jahren habe ich für ›Alias‹ Material gesammelt, Konzepte und Skizzen angefertigt, Probeseiten, Probeszenen geschrieben und – wieder verworfen. Ein paar tausend Blätter, darunter zahlreiche Xeroxkopien sind übriggeblieben und lagern nun als Abfall in mehreren Archivschachteln. Doch das Abgefallene, das Verworfene – mindestens neunzig Prozent der angehäuften Papiere – gehören zum fertigen Buch, das ohne den Durchgang durch die vielen Lektüren und Entwürfe nicht zu dem geworden wäre, was es in seiner massiv gekürzten Form nun ist. Ist nicht Franz Kafkas Schwimmer eben dadurch, dass er das Schwimmen verlernt hat, zum Rekordhalter geworden?

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