27. April

»Nur für Schwindelfreie!« Mit Lew Schestow bin ich nun durch, habe beim Verlag die kommentierte Übersetzung seiner ›Apotheose der Grundlosigkeit‹ und dazu eine Reihe anderer Schriften aus seiner Frühzeit eingereicht. Ich schließe damit meine langjährige Beschäftigung mit Schestow ab. Das Fazit ist ambivalent – auf der einen Seite stehe ich einem recht mittelmäßigen, oft unbesonnenen Philosophen gegenüber, auf der andern einem Original- und Privatdenker, der mich als Person wie als Autor zutiefst geprägt und beiläufig auch verändert hat. Durch Schestow bin ich noch unleidlicher, mir selbst unliebsamer geworden, noch eigensinniger, kompromissloser, intoleranter, fordernder, pessimistischer, egoistischer, auch risikofreudiger. – Die baufällige Tiefgarage ist rundum mit Graffiti verschmiert und steht knöcheltief unter Wasser. Wasser ist gut! Aber wir alle, die wir hier unsre Badekur beginnen, hocken in einer kühlen Brühe, auf deren Oberfläche Fettaugen und schillernde Benzinringe rotieren. Wir baden mit nacktem Oberkörper, haben aber, Männer wie Frauen, die Unterhosen anbehalten, und so sitzen wir nun – keiner kennt den andern – mit ausgestreckten Beinen auf dem überschwemmten Betonboden. In den steil ansteigenden Ausfahrten drängen sich Patienten und Immigranten, das mit weißer Arbeitskleidung und dicken Mundschutzbinden ausgestattete Wachpersonal versucht die vielen Leute mit Schreien und Schlägen irgendwie auf die Reihe zu bringen. Einer nach dem andern! Wie in Paris! Einer nach dem andern. Einer der Helfer holt mich aus dem Sitzbad, hievt mich in ein bereitstehendes Wägelchen, bringt das Wägelchen mit einem Fußtritt in Fahrt, ich rolle auf der schiefen Ebene ungesteuert, aber zielsicher auf eine niedrige Drehtür zu, in die das Wägelchen klackend einklinkt und von der aus ich durch einen langen niedrigen Schacht in den Untersuchungsraum gerollt werde. Sogleich fesselt man mich auf eine mit blutigem Mull bedeckte Pritsche, mehrere freundliche Ärzte beugen sich über mich und geben mir zu verstehen, dass sie längst wissen, was Sache ist, dass sie also bloß noch die entsprechenden Befunde festhalten müssen. Obwohl ich nach eigenem Gefühl von einer schweren, vielleicht tödlichen inneren Krankheit befallen bin, interessieren sich die Ärzte ausschließlich für meinen Kopf, messen millimetergenau meinen Gaumen aus, den Abstand zwischen den Zähnen, den Zugang zur Luft- und Speiseröhre. Vor der gläsernen Schiebetür drängen sich die Wartenden, manche wimmern vor Schmerz, andere fluchen und beschweren sich über Missstände wie Ungerechtigkeit, Bevormundung, Unterernährung, Fehlinformationen, sexuelle Übergriffe. Von einem bewaffneten Pfleger werde ich, nachdem mich der Chefarzt freundlich verabschiedet und vertröstet hat, durch einen unterirdischen Korridor ins Annexgebäude geführt, wo weitere Untersuchungen … wo nach Auskunft des Pflegers »die eigentlichen Untersuchungen« stattfinden sollen. Bei dem Annex handelt es sich um den östlichen Flügel einer riesigen, sichtlich heruntergekommenen Privatvilla, die ich sofort als die Residenz meines ehemaligen Gönners James E. Haefely erkenne. Krys – sie ist inzwischen als Haefelys Gattin in die Jahre gekommen – führt mich durch den labyrinthisch verwinkelten Anbau, wir passieren unzählige, meist leerstehende Kammern, ausgeräumte Büros, kaum noch möblierte Salons. Ich liebe Krys … ich weiß, dass ich Krys liebe und dass sie mich liebt. Doch wo sind die Gaskammern? Wo … wann dürfen wir, beide zusammen, auf Erlösung hoffen? – Bin noch immer mit Fjodor Dostojewskijs ›Idiot‹ zugange, diesem genialischen Trivialroman, der noch heute einem Philip Roth oder Mario Vargas Llosa die Show stehlen könnte. Sex und Crime sind hier mit grafomanischem Furor für ein gleichermaßen sensationsbedürftiges und sentimentales Publikum aufbereitet … äußerst gekonnt aufbereitet mit allen dazu notwendigen Ingredienzien – Täuschung, Übervorteilung, Untreue, Gier, Verschwendungssucht, Hysterie, Verführung, Leichtsinn, Tiefsinn. Dabei belässt der Schnellschreiber Dostojewskij den groß angelegten Roman mit elementaren kompositorischen Mängeln, oftmals leerlaufender Rhetorik und meist klischeehafter Figurenzeichnung – die Protagonisten sind nur flüchtig skizziert und gewinnen Präsenz allein durch ihre geistige Gestalt, ihre Meinungen, Vorurteile, Überzeugungen, Sehnsüchte, ihren Glauben. Figuren und Räume werden nur soweit angedeutet, wie es für die Charakterisierung und Verortung der unterschiedlichen, meist gegensätzlichen Gestalten notwendig ist. Bei all seinen Kunstfehlern und stilistischen Gebrechen macht Dostojewskij alles richtig … richtig im Interesse der Sache, um die es ihm geht. Rhetorik und Requisiten der Trivialliteratur setzt er bewusst ein, um Grundsätzliches über Gott, die Welt, den Menschen zu vermelden. In Form eines Trivialromans gibt er mit seinem ›Idiot‹ (wie mit den übrigen großen Romanen) eine philosophische Abhandlung zu lesen, die er dem Durchschnittsleser anders nicht beliebt machen könnte. So lässt er widersprüchliche Stimmen unter ständig wechselnden Voraussetzungen wie Sprechblasen aus seinen typisierten Gestalten aufsteigen, wobei diese Gestalten eher an ihren Sprechblasen zu hängen scheinen als diese an jenen. Jene – das sind verarmte Adlige, ruchlose Emporkömmlinge, eitle Nichtstuer, frustrierte Ehefrauen, eifersüchtige Liebhaber, tatenlose Militärs, erfolglose Geschäftsleute, skandalisierende Außenseiter, hysterische Nutten, missbrauchte Kinder, und alle sind sie – hier liegt der entscheidende Unterschied zur gängigen Unterhaltungsliteratur – Täter und Opfer zugleich: Die eigentlich tragische Figur des Romans ist der Mörder Rogoschin, die eigentlich komische, ja lächerliche Figur ist der gerechte, aufrichtige, ernsthafte, tolerante, intelligente Fürst Myschkin, der »Idiot« eben, der alle liebt und von allen verlacht und verachtet wird. Mit Edgar Allan Poe … nach Poe ist Dostojewskij der erste und größte Erzähler, der das Verbrechertum als Normalfall, den Verbrecher als einen Menschen »wie du und ich« vorführt. Jeder ist virtuell ein Betrüger, ein Verleumder, ein Lügner, ein Dieb, ein Verräter, doch die allermeisten sind bemüht, diese Virtualität zu unterdrücken, sie durch ihr soziales, berufliches oder auch religiöses Verhalten zu kaschieren. Bei Fjodor Dostojewskij tritt Verbrecherisches in obszöner Faktizität zutage, das Leben seiner Helden – auch der positiven – ist ein einziger Skandal. Vielleicht erklärt sich von daher die ungebrochene Aktualität seiner Romane, die auch der horrenden Normalität heutiger Verhältnisse – in der Familie, in der Geschäftswelt, in den Kirchen, in der Politik – vollends gerecht werden können. – Nach dreitägigem Landregen nun plötzlich, gegen Abend, eine momentane Aufhellung; grelles Licht und dumpfe Wärme brechen herein, bringen den Asphalt zum Glänzen und zum Dampfen. Schlecht für den Kopf, gut für die Migräne. Zeit für den aufgeschobenen Rundgang, den ich mit einem Gang zur Post und zur Apotheke verbinden kann. Verlockend ist das nicht, es sollte aber nach so vielen Tagen der Stubenhockerei wieder einmal sein. – In der NZZ eine Rezension zu Juan Carlos Onetti: Dieser Autor sei eben doch »nur ein Autor für Autoren« usf. – nur unterstrichen. Das ist hier, wie allgemein üblich, als kritische Warnung gemeint. Wer denkt noch daran, dass ausschließlich solche Autoren … dass ausschließlich Autoren, die andere Autoren zum Weiterschreiben anzuregen vermögen, die Literatur voranbringen können! Die Literatur voranbringen? Es sind nicht viele, aber es sind die, die zählen. – Drei enge Freunde – zwei davon jünger als ich – sind in der vergangenen Woche gestorben, die Frequenz solcher Verluste erhöht sich, es sind – nach einem Wort Rilkes aus der Elften Elegie – »Verluste ins All«, und ich spüre schon, dass meine Wenigkeit dadurch noch weniger wird und … aber es braucht dafür nicht notwendigerweise den Tod des Andern, der Andere kann mir auch sonst verloren gehn und ist dann ebenso abwesend wie der Verstorbene, selbst dann, wenn man … wenn ich hin und wieder von ihm lese, ihm begegne. Gewisse Freundschaftsbeziehungen – die meisten – beginnen irgendwann ohne äußern Grund zu bröckeln, setzen plötzlich aus und sind nicht wieder herzustellen; sie haben ihre Zeit gehabt, das ist gut so, und dass die Zeit um ist, wird man solange bedauern, bis der Freund als gewöhnlicher, wenn nicht gemeiner Zeitgenosse, vielleicht auch als Gegner kenntlich wird. Am wenigstens ist dem Freund, meine Erfahrung macht’s klar, das Freundeswort zuzumuten. Keiner will wirklich ernst genommen, befragt, gar in Frage gestellt werden. Solidarität unter Freunden besteht im Wesentlichen darin, dass man sich gegenseitig belügt, beschwichtigt, bestätigt, und nicht, dass man sich auf die Probe stellt. Die Wahrheit wird viel eher dem Feind zugemutet als dem Freund. Zufälliges, Beiläufiges fällt mehr ins Gewicht als das Gewichtige, auf dem Solidarität und Freundschaft beruhen.

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