27. März

Vor vier, fünf Wochen hatte ich dem Schriftstellerkollegen J. L. eins meiner unveröffentlichten Gedichte geschickt, mit der beiläufigen Empfehlung, es »als Gruß zu lesen«. Nun antwortet er darauf – ohne Anrede – mit der ihm eigenen Lakonie: »Leider schreibe ich keine Gedichte.« Was mich, versteht sich, darüber nachdenken lässt, ob meine Gedichte tatsächlich nur für jene lesbar sind, die selbst Gedichte schreiben. Oder ob sich J. L. vielleicht verschrieben hat … ob er vielleicht nur einfach sagen wollte, dass er keine Gedichte liest, also auch meins nicht gelesen und deshalb dazu auch nichts zu sagen hat. Nicht mal den Gruß hat er, der Schnell- und Vielschreiber, erwidert. Vom Undank nicht zu reden. – Gedichte sind kritisierbar, nicht aber falsifizierbar; sie stehen da und lauten. – Mit Schweißausbrüchen, mit Kälteschauern, mit Nackenstarre hocke ich … irre ich in der Gegend herum, völlig durchnässt und verwüstet vom Schmerz – die Schmerzen sind so mörderisch, dass ich sie als Beleidigung, als Verletzung meiner Menschenwürde empfinde und erst in zweiter Instanz als körperliches Ungemach. Nach Platons Sokrates müsste ich all dies für irrelevant halten, sofern ich als tugendhaft gelten könnte; denn dem Tugendhaften kann nichts Böses begegnen, d. h. für den Tugendhaften muss Böses, Schlechtes, Bedrohliches, Erniedrigendes usf. irrelevant bleiben – der Tugendhafte soll, derweil er im phalarischen Stier bei lebendigem Leib geröstet wird, daran glauben (davon überzeugt bleiben), dass ihm dieses Schlimmste gar nicht erst zustoßen kann, und wenn es doch geschieht, hat es keine letzte Wichtigkeit … ist es bloß ein vorübergehende Malaise. Ich kann Tugendhaftigkeit für mich nicht beanspruchen, finde die sokratische Fragestellung beziehungsweise Versuchsanordnung ziemlich frivol, glaube aber zu wissen, dass mit zunehmender Schmerzerfahrung … dass extreme Schmerzerfahrung und die damit verbundene, gleichzeitig empfundene Erniedrigung die Todesangst verringert. – Unterwegs von Zürich in den Jura besuche ich unangemeldet und entsprechend kurz meine Mutter in Burgdorf; sie führt mich auf den Balkon, kneift ihre hellen, fast blinden Augen zu und präsentiert mir mit einer ausholenden Geste »das schönste Licht aller Zeiten«. Tatsächlich hat das Frühlingswetter eine fast schon mediterrane Qualität, man glaubt, das große Licht sei untermischt mit Reflexen und kühlen Schäumen vom Meer jenseits der nahen Alpen. – Ist man bei Lew Schestow und folgt ihm, müsste man annehmen, dass jene Geringsten, derer das Himmelreich ist, die einzig »wahren« (wahrhaftigen) Menschen sind – schwafelnde Kinder, grummelnde Demente, brüllende Autisten, hergelaufene Immigranten, sogenannte Sozialfälle. Merkwürdig, dass gerade solche Menschen es sind, zu denen ich am ehesten Sympathie entwickeln kann, auf die ich am leichtesten eingehen kann, an denen ich auch am leichtesten scheitere. – Ich bin zu einem Tennisturnier und zur nachfolgenden Grillparty eingeladen. Auf der Anlage – in der Halle und im Freien – spielen mehrere hochmotivierte, sehr sportliche Kameraden aus meiner späten Gymnasialzeit. Ich selbst, athletisch schwach ausgestattet, kann nur dabeistehen, kann nur zusehen, mich wundern, applaudieren. Doch nun soll ich – Max Wagner winkt mich von der Tribüne – wenigstens in einem Doppel mitspielen. Mir ist schon klar, dass ich den Ball mit meiner Schreibhand kaum übers Netz schlagen würde, geschweige denn, dass ich ihn gezielt vor die Grundlinie oder in die Ecke setzen könnte. Wagner insistiert, die Kollegen vom Griechischkurs beginnen zu klatschen, ich kann mich nicht länger verweigern. Das Doppel findet drüben in der großen Halle statt, es ist vermutlich eine ehemalige Fabrikhalle, durch die hohen Fenster fällt schräg das Abendlicht herein. Die Wände bröckeln, sind von Flechten, Rost, Spinnweben überzogen, am Boden kann man noch die Spuren der demontierten Maschinen und Zwischenwände erkennen. Das Spielfeld ist sehr klein, als Markierungen dienen die noch sichtbaren, leicht erhabenen Spuren der herausgerissenen Wände. Ich soll zusammen mit einem schlaksigen, mir unbekannten Jungen antreten, der offensichtlich gut trainiert und bestens ausgerüstet ist, er trägt einen Fahrradhelm mit zackigem Firmenaufdruck, ist dabei, sich einzuspielen, beachtet mich nicht. Die Probebälle, die er knapp übers Netz schlägt, landen alle knapp im Feld und rotieren wegen ihres scharfen Dralls unhaltbar nach außen. Wozu der noch einen Partner braucht? Und ausgerechnet mich! Aber aus dem Publikum winkt mir ermunternd seine schöne Mutter zu, die seit gestern meine Geliebte ist. – Verzockt, verlocht, verloren, erschlichen, gestohlen, veruntreut, unterschlagen, gespendet, gewechselt, gewaschen, verspielt und … aber Geld geht nie verloren, alles bleibt im Umlauf, wechselt lediglich die Konten, dient wechselnden Herren, schadet und nützt zugleich – was mich an die chassidische Vorstellung erinnert, wonach auch wir, Men und Schen, nicht verloren gehen können, weil alles, was an uns ist, in atomarer Auflösung weiterbesteht, weitergetragen wird, weiterkreist, in neue Konstellationen eintritt, neue Mengen, Formen, Wesen bildet – nicht zu verspielen, nicht zu verzocken, nicht zu verlochen, nicht zu erschleichen. – Feuchtkaltes Jurawetter, die Luft ist so schwer und so diesig, dass sie sogar die Geräuschwelt unterdrückt; seltsame Stille im Wald, die eigenen Schritte verdumpfen, die Bäume scheinen im Boden zu versinken, der weggeschmolzene Schnee hat das Herbstlaub als schwarze gehäkselte Knetmaße zurückgelassen. Unruhiger Schlaf. Die Migräne wie ein sirrender Helm auf dem Schädel. Zwischen kurzen Träumen steh ich mehrmals auf, geh durch die Wohnung, auf die Terrasse, ein paar Schritte in den finstern Garten. Lese satz- und absatzweise Paul Valéry (›Brisées‹), nochmals Walser, wieder Michon. Entdecke unter meinen Nachschlagewerken einen umfangreichen Sammelband zur Textüberlieferung aus der Antike, den ich wohl noch nie geöffnet oder … oder einfach vergessen habe; rasch lese ich mich in dem Band fest, und ich bleibe wie bei einem starken Kriminalroman mit zunehmender Spannung dran.

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