27. Oktober

Das war heute Nacht der erste Stu… der erste Herbststurm, eine sanfte Wucht, lau und schwer, und heute früh stehn die Bäume – am Kanal entlang, um den Friedhof herum – halbleer da, erleichtert und gelichtet, völlig reglos bis zum vorletzten Blatt. Der Fußweg zum Wald hin ist dicht übersät von gefallenem Laub, ich geh wie auf einem dicken weichen Teppich, den ich bei jedem Schritt der Länge nach mit dem Schuhabsatz aufreiße. Ich schau mir zwischen die schreitenden Beine, bin frappiert von der Farbenpracht der Blätter und Blättchen, die sich zu Hunderttausenden zu einer feucht schimmernden Fläche zusammenschließen, in der sämtliche Gelb- und Braunwerte versöhnt sind … versöhnt! Denn es gibt hier vor meinen Füßen nichts – weder Farbe noch Form –, das nicht in Harmonie vereint wäre, keine störende Farbe, keine unpassende Form; es sei denn … dort am Wegrand! … jene zerknautschte Aludose, deren Metallglanz und giftblaue Färbung den überwältigenden Gesamteindruck später Schönheit verderben. – Zu den stärksten Leseeindrücken meiner späten Schul- oder frühen Studienzeit gehört André Bretons kleiner, mit Fotografien illustrierter Roman ›Nadja‹ von 1928. Ich erinnere mich … ich war trunken von dem zauberhaften Buch und dessen geheimnisvoller Protagonistin wie von einem glasklaren, dann plötzlich sich eintrübenden und bald schon abbrechenden Traum. Ich habe mir den schmalen Band, da ich die zerlesene Erstausgabe von damals nicht mehr finden kann, kürzlich (in der Neufassung von 1963) nochmals gekauft, bin auch diesmal angetan von der Art und Weise, wie Breton in seiner kristallinen, fast klassisch zu nennenden Prosa fantastische Episoden und Spekulationen vergegenwärtigt. Nur stellt sich diesmal der einstige Zauber nicht mehr ein. Nadja, die einst – für mich, beim Lesen – sinnliche Präsenz gewann und zugleich seltsam entrückt blieb, ist zur papiernen Kunstfigur verflacht, hat ihre geheimnisvolle Aura verloren, spricht mich nicht mehr an … sie bedeutet mir nichts mehr, weil ich nun viel zu genau verstehen kann, was mir der Autor durch ihre Maske hindurch oder … oder hinter ihrer Maske hervor sagen will. »Am meisten liebe ich, unter allen andern, jene Situationen, in denen es mir schlechterdings an Geistesgegenwart gefehlt hätte.« Was für ein Konjunktiv! »Ich hätte wohl nicht einmal die Geistesgegenwart gehabt, die Flucht zu ergreifen.« Aber solche Sätze – viele davon habe ich diesmal grün unterstrichen – können mich bei Breton noch immer faszinieren. – Das Schrecklichere an Warlam Tichonowitsch Schalamow ist die Einsicht (die ich als Leser gewinne), dass selbst der Durchgang durch die Hölle und die Rettung daraus einen Menschen – den Menschen? – weder läutern noch sonstwie verändern: Das Böse und Banale, dessen unvergleichlicher Chronist Schalamow ist, hat auch ihn selbst durch und durch imprägniert; er hat als Opfer überlebt und ist dabei seinerseits – wenn auch bloß in Worten – zum Täter geworden; seine postkarzeralen Erinnerungen, seine wüsten Querelen mit Solschenziyn, seine Rundumschläge gegen Verschonte und Davongekommene sind das desolate Zeugnis dafür. – Spätherbstwetter, es nieselt tagsüber in einem einzigen Grauton, erst jetzt, da der Abend die Nacht vor sich ausrollt, kommen noch andere … kommen auch dunklere Schattierungen hinzu. Bin unterwegs in der Stadt unweit vom Heimplatz. Üppige Pflanzenpolster an den hohen Mauern fallen mir auf – keine Spur von vergilbendem Laub. – Ein Stück weit geh ich mit einem jungen Kollegen (Endres? Andreä?), von dem ich weiß, dass er für »Die Zeit« zur Buchmesse eine Übersicht zur jüngsten literarischen Produktion geschrieben hat, nein, gelesen hab ich den Artikel nicht, bin mir aber sicher, dass ich darin, wie üblich im Feuilleton, als Autor nicht figuriere, nicht mal erwähnt werde, frage aber nicht eigens nach. Von einem Literaturklub ist die Rede, der sich heute Abend zum Saisonbeginn zusammenfinden soll, um das Winterprogramm zu besprechen. Ich bin nicht Mitglied, werde aber … will nun doch kurz vorbeischauen. Dazu muss ich über den Berg, steige durch steile Gärten, vorbei an alten Villen mit lauschigen Sitzplätzen. Der Weg wird immer schmaler – die Häuser, die Gärten bleiben hinter mir zurück, ich bin nun hoch über der Stadt, habe freien Einblick ins Land, das sich provinziell hinstreckt, nur ein paar Höfe und Weiler sind in der leicht hügeligen Landschaft verstreut. Ich selbst befinde mich nun auf der Passhöhe, muss überlegen, wie ich von da wieder runterfinde, und darauf achten, dass ich nicht zu spät komme. Vor mir in die Tiefe führt ein enger, in die Erde eingegrabener Pfad, der aussieht wie ein schwarzer reißender Wildbach. Ein paar wenige Leute tummeln sich am Bildrand, warnen mich, hier anzutreten, doch ich wage den Abstieg, nehme die wachsende Spannung in Leisten und Waden in Kauf. Natürlich bin ich längst zu spät, und als ich endlich in der Unterstadt ankomme, liegt massenhaft matschiger Schnee in den Straßen – Lastkraftwagen und Linienbusse drehn sich um sich selbst, kippen um, bleiben liegen. Bleibt bloß die Straßenbahn. Ich muss mich beeilen, muss unbedingt die nächste Linie erreichen, die die letzte ist, merke aber, ich hab kein Kleingeld für den Ticketautomaten. Viele Leute warten in der Schlange, unter ihnen eine Frau, die mir hasserfüllt beim Kramen nach Kleingeld zusieht, mich dann aber plötzlich mit der süßen Stimme einer Empfangsdame oder Parfümverkäuferin fragt, ob sie mir helfen könne? Hilfe! Ich nehme Reißaus, und ohne Ticket rette ich mich in eine der nachrückenden Straßenbahnen, durchquere eine mir unbekannte Stadt, erreiche schließlich das Klublokal, wo man bereits – der geschäftliche Teil scheint abgeschlossen zu sein – gemütlich beisammensitzt, sich unterhält, sich verpflegt. Präsident des Klubs scheint jener Brillenträger mit der Stirnglatze zu sein, ein freundlicher … ein typischer Juror, der sich gerade anschickt, die diesjährigen Preisträger bekanntzugeben. Der erste Preis, ein Werkjahr, geht an Hans Leopold Davidson für ein von ihm vorgelegtes Dramenprojekt. Ach, denke ich, in solcher Gesellschaft … bei solcher Konkurrenz bleibt mir keine Chance auf Beachtung; doch der Juror hält nun ein dickes, schön gestaltetes Buch aus dem Artemis Verlag hoch in die verrauchte Luft, vermutlich an die tausend Seiten Dünndruck, darin enthalten, wie er nun zu meiner Verwunderung bekannt gibt, ein umfangreicher Text von mir, ein Langgedicht mit dem Titel ›Vamos‹. Xenia Schafroth bemüht sich in ihrer Laudatio ehrlich um das Verständnis des für sie (»des für mich und die ganze Jury«) schwer erschließbaren Beitrags. Mit einem Zwischenruf weise ich sie darauf hin, dass im Werktitel ›Vamos‹ die Wörter »soma« und »vos amo« verborgen sind. Die Rednerin atmet auf, die Juroren nicken erleichtert, man wünscht, dass ich das Gedicht nun selber vorstelle und wenigstens ein paar Strophen daraus »zum Besten« gebe. Die Schafroth reicht mir den Text, handgesetzt und auf Bütten schön gedruckt, und … aber sofort wird mir klar, das ist nicht mein Gedicht, klar, das muss eine Fälschung sein, oder jedenfalls ein bedauerlicher Irrtum, nein, ich kann mit dem hier hochgelobten Text – zweiter Preis in der Höhe von fünfzigtausend Euro – nichts anfangen, kann ihn nicht geschrieben haben, werde ihn auch nicht vortragen können, da mir die Schriftzeichen unbekannt und völlig unverständlich sind. Also los denn!, rufen Jury und Publikum im Chor: Wir hö-hö-hören! Noch ein Grund für mich, nur einfach nichts mehr zu fühlen. – Über Nacht ist die offizielle Winterzeit und damit die ganz normale Kalenderzeit angebrochen. Eine Stunde zurück. Auf meinem PC geht das automatisch, beim Telefon muss ich erst nachlesen, wie man die Uhrzeit manuell einstellt. Bin gegen fünf Uhr früh aufgewacht, obwohl ich bis nach Mitternacht am Schreiben war. Lese bis sieben mit ungewaschenen Augen diagonal in den paar Büchern, die grade (am Boden vor dem Bett) gestapelt sind. ›La foudre‹ von Lydie Dattas. ›Freedom‹ von Jonathan Franzen. ›The Broken World‹ von Tim Etchells. ›Le temps retrouvé‹ von Marcel Proust. Juvenilia und Nachgelassenes von Sigismund Krschischanowskij. ›Telepathie‹ von Jacques Derrida, einem Seitenstück zur ›Postkarte‹ – darüber schlafe ich dann doch noch einmal ein, ohne mir die Augen gewischt zu haben, egal, ob man … egal, wie ich Derrida lese, ich bekomme immer nur soviel mit, wie ich mir bei der Lektüre vorstelle, nur das, was ich mir selbst dabei (oder davon ausgehend) denken kann. Doch zu eigenem Denken reicht es diesmal nicht, nur eben zum Gedanken … zur schläfrigen Frage, ob Derrida, der Dreiste, der Freundliche, seine prekäre Genialität nicht eben dem Umstand verdankt, dass er sich, über seinen Tod hinaus, als ein lebendes Missverständnis im Gedächtnis so mancher Adepten zu halten vermag. – Bis in die Hauptnachrichten wird heute die Meldung über den Fund der ersten Mona Lisa kolportiert. Ein internationales Forschungsteam will das Urbild der ewig lächelnden Dame entdeckt haben und versucht nun dessen Authentizität nachzuweisen. Ist das Bild eine Vorstufe (Skizze, Entwurf) zu dem bekannten Gemälde von Leonardo? Oder ist umgekehrt die Mona Lisa im Louvre eine Kopie des jetzt aufgefundenen Originals? Wodurch unterscheidet sich jenes von diesem? Wie ist die handwerkliche und künstlerische Qualität des Fundstücks einzuschätzen? Von solchen Fragen abgesehen, geht es naturgemäß auch bei dieser angeblich sensationellen Entdeckung um sehr viel Geld. Eine erste Mona Lisa dürfte heute ebenso unbezahlbar und also unversicherbar sein wie die zweite, die wir bisher als die einzige kannten. Anderseits wird es wohl so gewesen sein, dass es für eine weitere Mona Lisa – auch wenn es die erste sein sollte – im Bewusstsein … in der Vorstellung des Publikums keinen Platz gibt. Man will ja im Museum ein Original sehen, und davon kann’s nur ein einziges geben.

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