28. April

Gegen sechs Uhr bei bereits fühlbarer Wärme aufgestanden, Tee und Nussbrot mit Honig beim Dorfbäcker, danach direkt waldwärts zum Rundgang. Bei der Rückkehr ist es fast schon sommerlich heiß, dies bei allerdings ungutem, leicht dunstigem Licht, das kaum einen Schatten aufkommen lässt. Nach ein paar ruhigen Tagen rebellieren nun wieder Kopf und Bauch, Konzentration fällt schwer, das Lesen bleibt unergiebig, das Schreiben freudlos. Krys ist in Wien beim alten Schwendter, leitet einen Workshop über Film- und Bühnenmusik, kommt voraussichtlich erst nächste Woche zurück. – Mir geht’s am besten, wenn ich zu Fuß unterwegs bin, geleitet von den Wegen, die mich kennen, weitab von Büchern, Erinnerungen, Erwartungen. – Bei Durchsicht meiner Tagebücher bin ich heute unterm Jahr 2002 auf ein Gedicht gestoßen, das eigentlich nur von mir sein kann, das ich aber nicht mehr als mein Gedicht erkenne. Datiert ist es mit »20/XII«, eine Signatur gibt es nicht, als Original ist es allein durch meine Handschrift ausgewiesen und … aber eigentlich nicht einmal dies, denn es könnte sich ja auch um eine Abschrift – um die Abschrift eines Fremdtexts – handeln. »Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.« Lang ist es her, da der Autor mit solcher Selbstgewissheit auftreten durfte und sich darauf verlassen konnte, dass Autorschaft fraglos mit Autorität gekoppelt war. Das Diktum hat sich inzwischen in sein Gegenteil verkehrt und müsste dementsprechend auch ganz anders lauten; nämlich so: Was ich geschrieben habe, das habe ich nicht. Doch wem, wenn nicht mir, ließe sich dieses mehrstrophige Gedicht (das im Übrigen den Titel Fremd trägt) zuschreiben? Ich rücke es hier ohne jede Änderung in der vorgefundenen Textfassung ein: Fremd
aaaaaist was sich berührt und
aaaaaaber Entferntes
aaaaaso ähnlich. Wo nämlich
aaaaaLiebe nährt statt

aaaaanähert. Kostet Gabe als
aaaaaSchwester der
aaaaaSchwere das Begehren.
aaaaaEine Apfelblüte

aaaaalang wehrt sich die
aaaaaGlut. Länger
aaaaawährt immer Verrat. Bis
aaaaader Freude die Luft

aaaaawegbleibt und keine Lust
aaaaaihr Lachen nicht
aaaaaentlässt. Kein Ja ist
aaaaaachtsam genug.

aaaaaIst genug auch ohne Sieg
aaaaaund Schmerz. Nun
aaaaaversteht sich vielleicht ein
aaaaabisschen besser
aaaaawer abkommt vom Menschen.

aaaaaBleibt kein Du und
aaaaakein Hauch sonst wenn eine
aaaaaNacht wie Wir
aaaaahereinbricht von unten. – Ich habe dieses Gedicht seit seiner Entstehung vor mehr als einem Jahrzehnt nie wieder vor Augen gehabt, habe es auch – soweit ich’s überprüfen kann – nie publiziert, und jede Erinnerung daran ist mir abhanden gekommen. Ich kann mir weder den Anlass noch die Umstände seiner Entstehung vergegenwärtigen. Doch es hat auch ohne mich überlebt. Heute lese ich es wie einen »verlorenen« oder jedenfalls gründlich »vergessenen« Text – ich kann … ich muss das Gedicht lesen, als wär’s nicht von mir. Das ist für mich nun allerdings keine besonders abwegige Erfahrung, da ich, erstens, eigene Gedichte, wenn sie einmal geschrieben und abgelegt, womöglich gar gedruckt sind, ohnehin nicht lese, und da, zweitens, wenn mir zufällig – etwa in einer Anthologie, im Internet – ein Gedicht unter meinem Namen begegnet, es mir noch jedes Mal fremd vorkommt. Von daher ist die Befremdung vor dem eigenen Text und ist auch das Befremdliche am eigenen Text eine rekurrente Leseerfahrung. Doch wie erkenne ich im Entfremdeten das Eigene wieder? Das Eigene! Was kann denn überhaupt, mit Blick auf ein Gedicht, von mir sein … von mir gemacht und gemeint sein? Denn die Wörter sind ja immer schon gegeben, die Sprache hält sie auf unterschiedlichen Stilebenen immer schon bereit, an mir als Autor ist es dann bloß noch, mich ihrer zu bedienen beziehungsweise sie nach bestimmten Prämissen in bestimmte Konstellationen einzubringen. Diese Konstellationen sind das, was an einem Gedicht … was an einem Gedicht von mir original, erstmalig, einzigartig sein kann. Nur darin bin ich als der, der’s geschrieben und unterschrieben hat, erkennbar; nur darin und nur auf diese Weise kann sich Eigenes im Gedicht konkretisieren. Als Erkennungszeichen eines Personalstils reicht dies freilich nicht aus. Erst wenn … einzig dort, wo sich gewisse – formale wie inhaltliche – Dominanten im Wortgefüge eines Gedichts erkennen lassen, wird dessen Eigenart und damit auch der Personalstil des Autors fassbar. Beim vorliegenden Text (wie überhaupt in meinen Gedichten) sind als Dominanten die Assonanz und das Paradoxon auszumachen, beides ist für meine poetische Rhetorik gleichermaßen bestimmend. Die Assonanz wird, ausgehend von einem beliebigen Leitwort, als Klangentfaltung bewerkstelligt, das Paradoxon gibt dem Widersinn eine gleichsam definitorische Bedeutung. Allein an diesen Charakteristika kann ich mein vergessenes Gedicht als meinen Text wiedererkennen. Für dessen aufwendige, stellenweise vielleicht etwas aufdringliche Instrumentierung werden auf engem Raum so gut wie alle dafür sich anbietenden Möglichkeiten genutzt – die einfache Lautähnlichkeit, die Paranomasie, der Gleichklang, der Stabreim. Assonantisch sind in diesem weiten Verständnis Klangverbindungen und Echoklänge wie ähnlich :: nämlich; nährt :: nähert; Schwester :: Schwere :: Begehren, nährt :: wehrt :: währt; Luft :: Lust :: (ent)lässt usf. Mit den Klangähnlichkeiten kontrastieren die hier gehäuften paradoxalen Wortverbindungen und Metaphernbildungen, z. B . »fremd ist was sich berührt«; »Entferntes so ähnlich«; »kostet Gabe«; »keine Lust ihr Lachen nicht entlässt«; »Sieg und Schmerz«; »eine Nacht wie Wir hereinbricht von unten« usf. Aus der Spannung zwischen harmonischer … zwischen harmonisierter Klanggestalt und entschiedenem Widersinn ergibt sich die poetische Eigenständigkeit und Unverwechselbarkeit des Gedichts, dessen Qualität sich darin allerdings nicht erschöpft. Die hier erwähnten technischen Daten und Verfahren seiner Herstellung machen aus ihm noch lange kein Meisterwerk. Das Werk – als das Bewerkstelligte – gewinnt erst bei integralem Lesen … wird erst unter den Augen und im Verständnis des Lesers den Sinn gewinnen, der es zur Kunst macht. Mein über so lange Zeit unter Verschluss gebliebenes Gedicht war, ungeachtet seiner diskutablen Qualitäten, ebenso lang ein Gedicht ohne Sinn und – ohne mich. So leben sich Autor und Text auseinander. – Vom Balkon meiner Stadtwohnung – sie liegt im oberen Südhang des Zürichbergs – habe ich einen weiten Ausblick in die Ostschweizer Alpen nach links und ins schweizerische Mittelland nach rechts. Den Blick ins zentralschweizerische Hochgebirge verstellt der Üetliberg, der bis auf seine halbe Höhe dicht überbaut und weiter oben schwarz bewaldet ist. Seit mehr als zehn Jahren wohne ich hier, und noch immer bedaure ich … bis heute bedauerte ich, dass ich keinen Seeblick habe. Miet- und Kaufpreise für Immobilien am Zürichberg werden durch den »Seeblick« mitbestimmt. Gerade war ich – es ist kurz nach vier – zum Durchatmen auf dem Balkon. Die strahlend weiße Sonne steht knapp überm Üetliberg, blendet mich. Ich hebe die Hand vors Gesicht und sehe erst jetzt, dass das große Dreieck zwischen dem gegenüberliegenden Nachbarhaus und der klotzigen, schräg dahinter stehenden Kirche, das ich seit Jahren für ein Metalldach gehalten habe, in Wirklichkeit mein »Seeblick« ist – im flachen Winterlicht flimmert das Dreieck … flimmert die unbewegte Wasseroberfläche, die ich nun tatsächlich erstmals als solche wahrnehme. Wie lange habe ich mich über das Offensichtliche getäuscht! Habe auf den »Seeblick« verzichtet zu Gunsten einer völlig falschen Vorstellung, indem ich dort ein Hindernis zu sehen glaubte, wo in Wirklichkeit freie Sicht herrscht. Frei? Wirklich? – Die Tatsache, dass man Richard Weiner – er lebte von 1884 bis 1937 – immer wieder mit Franz Kafka vergleicht, ihn gar als dessen »Doppelgänger« bezeichnet, um ihn vom Geheimtipp zu einem Klassiker der literarischen Moderne zu befördern, hat dem tschechischen Erzähler bislang keinen nachhaltigen Nutzen gebracht. Zwar ist in Prag seit Jahren eine mehrbändige Werkausgabe im Erscheinen, die nebst Weiners Prosa auch lyrische und publizistische Arbeiten enthält, doch davon, dass dieser Autor nun endlich seinem Rang entsprechend gelesen und gewürdigt wird, kann weiterhin keine Rede sein. Dies gilt, mehr noch, für seine Rezeption im deutschen Sprachgebiet, wo bereits mehrere Auswahlbände vorliegen, ohne dass Weiner als »tschechischer Kafka« sich hätte durchsetzen und behaupten können. – Mit einer neuen Textauswahl, die erstmals auch literarische Essays und zeitkritische sowie autobiographische Schriften in Übersetzung zugänglich macht, soll Richard Weiner jetzt definitiv an den »tiefgründigen Gedankenstrom« angeschlossen werden, der ihn angeblich mit Kafka verbindet: »Beide mit dem Ich beschäftigt und doch unkapriziös-bescheiden, öffneten sie sich im Schreiben anderen und lebten gleichwohl zurückgezogen und eigenbrötlerisch.« Was immer dies heißen mag – mit Kafka wird Weiner auch diesmal bei weitem nicht gleichziehen können. Die vorliegenden Texte, zusammengetragen aus seinem Erzählwerk der Jahre 1913–1919 und 1928–1933, ergänzt durch politische Artikel und literarische Aufsätze, Briefe und andere Selbstzeugnisse, sind thematisch wie qualitativ allzu disparat, um Weiners literarische Statur in ihrer optimalen Ausformung erkennbar zu machen. Aus seiner kurzfristigen Annäherung an den Surrealismus in den mittleren 1920er Jahren gewann er den entscheidenden produktiven Impuls für sein großartiges, wenn auch schmales erzählerisches Spätwerk (unter anderm ›Der Bader‹, 1929; ›Spiel im Ernst‹, 1933). Wie prägend diese Impulse für Weiner geworden sind, ist durch zwei meisterhafte Fantasiestücke belegt (›Die Puppendoktoren‹; ›Long is the Way to Tipperary …‹), in denen er alle Register surrealistischer Einbildungskraft – außer der erotischen – souverän bedient und dennoch zu wundersamen, völlig eigenständigen Formulierungen gelangt … Formulierungen, die beispielsweise einen »Abend hart wie Erbsen« sein lassen oder das Lächeln einer Brautjungfer wie den »Druck des Saftes, der die Apfelbäume zum Aufblühen bringt«. In diesen Texten kann es »scharf nach Ursächlichkeit riechen «, eine »unzugängliche Abhängigkeit« kann »so dicht gedrängt« sein, »dass es darin für ein Fragezeichen keinen Platz gibt«, und »aus großer Entfernung« kann das grollende Meer »um Vergebung bitten«. Nach eigenem Bekunden erkennt Richard Weiner die Welt so klar, wie er sie »in Wirklichkeit nur im Traum sehen würde« – die fantastische Wirklichkeit des Traums ist der kruden Wirklichkeit der Welt übergeordnet, vermag sie aber doch nicht auszublenden. – Dass auch die krude Wirklichkeit – der Horror des Alltäglichen – leicht ins Fantastische abdriften kann, bezeugen manche Texte aus Weiners erster Schaffensphase, vor allem die »Analyse einer ungeschriebenen Erzählung«, die 1919 unter dem Titel ›Der leere Stuhl‹ erschien und nichts anderes zum Gegenstand hat als eine verpasste Teestunde zwischen zwei in Einsamkeit alternden Freunden – eine harmlose Un-Gelegenheit, die keine logische Erklärung findet und deshalb allmählich in pures Entsetzen, schließlich in die existentielle Frage nach Schuld und Sühne umschlägt. »Die Frage weitete sich unversehens aus«, gesteht am Schluss der Icherzähler: »Mein Entsetzen, mein lebenslängliches Entsetzen, siehe, es war der Schrecken aus der Schuld meines Lebens. Ich kenne ihr Warum nicht, und ich kenne ihre Größe nicht.« – Laotse: »Rechte Worte sind das Gegenteil.« – Poetisches Schreiben evoziert Evidentes als das Verborgene. Nicht unterhalten, nicht belehren, nicht erinnern – aufmerksam machen. – Arthur Rimbaud ›An eine Vernunft‹: Ein Fingertipp auf der Trommel entfesselt
aaaaaalle Töne und eröffnet eine neue Harmonie
. – Das kleinste Detail – auf klanglicher, auf metaphorischer Ebene – kann im Gedicht große Sinnzusammenhänge evozieren, kann Evidentes neu erkennbar machen durch Verfremdung. – Die Anfänglichkeit des poetischen Denkens und Schreibens ist vergleichbar mit einer allseits überströmenden Quelle, die ihren Weg sucht (ihren Gang nimmt); den Verlauf der Ströme oder Rinnsale bestimmt die Beschaffenheit der Oberfläche, über die sie fortlaufen. – Heute der kurze Zwischenhalt am stillen Teich, wo sich zur Zeit Frösche und Kaulquappen tummeln. Eine winzige Spinne mit einem blassgelben Riesenei am Hinterleib fällt ins Wasser, sofort schießen aus verschiedenen Richtungen zwei Wasserläufer heran, fast schwerelose ätherische Wesen mit spindelförmigem Leib und sehr langen fadendünnen Beinen; sie nähern sich der reglos im Wasser treibenden Beute, umkreisen sie, scheinen sie anzustechen, gehen dann aber plötzlich aufeinander los, um sich das Fressrecht zu erkämpfen. Der Besiegte zieht ab, der Sieger tut sich gütlich an seinem Fraß. Danach eine heitere Lesestunde unter den Bäumen vorm Pavillon, über mir auf einem knospenden Ast schwankt ein unscheinbarer bräunlicher Vogel mit kurzem gebogenem Schnabel, ruckelt mit dem Kopf herum, reißt immer wieder den einen Flügel hoch ins Genick, dabei singt er mit einer Lautstärke, die ihn eigentlich zerreißen müsste, mehrfach die gleiche komplizierte Tonfolge, dies aber in unregelmäßigen Abständen. Als plötzlich die wüste struppige Katze des Nachbarn vorbeihuscht, frage ich mich, ob der Gesang als Warnung, als Selbstvergewisserung, als Jubel gemeint ist. Egal! Ich beziehe ihn einfach auf mich. Niemals sonst (und niemals wieder) kommt meine Wenigkeit mit solch herzzerreißender Direktheit zu Ehren. Aber zu ihrem Recht? Hat sie keins.

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