28. Juli

Nach mehreren Hundstagen mit Rekordtemperaturen waren für heute Nacht schwere Gewitter angekündigt; es blieb bei ein paar geballten Blitzen und fernen Donnerschlägen. Die brutale Hitze sank in den nächtlichen Stunden um zwölf bis fünfzehn Grad und ging sanft, fast unmerklich in einen kräftigen Landregen über. Wie ein gewaltiger durchsichtiger Schutzmantel breitet sich das graue Rauschen über die Senke von Romainmôtier und darüber hinaus bis zu den Hochterrassen von Premier und Jurien. Bin mit der Dämmerung um halb sieben aufgewacht, habe ohne Frühstück den üblichen Marsch angetreten – Anstieg auf dem steinigen, jetzt schon überschwemmten Weg in Richtung Croy, weite Runde durch den Wald nach Bretonnières und zurück. Begleitet und umweht vom konstanten Geräusch des Regens, dessen Monotonie sich aus der Symphonik von ganz unterschiedlichen Klangereignissen ergibt – aus dem Herabrauschen der Tropfenfäden, dem Auftreffen des Regens auf das Wipfellaub, dem Kollern der Tropfen und ihrem Aufplatzen auf Zweigen und Blättern, zuletzt ihr lautloses Verschwinden im moosigen Grund. Einen schönern Einklang von Luft, Wasser, erdigem Duft, dichtem Geräusch und diskreter Farbenpracht kenne ich nicht, habe ich nie erlebt, würde ich mir wünschen als marche funèbre. In solcher Atemweite den Geist aufzugeben! Völlig durchnässt komme ich nach Hause zurück. Innen leer. – »In diesem Sommer bleibt der Honig aus …« – Ingeborg Bachmann liest im ORF ihr berühmtes Gedicht gleichsam aus dem Jenseits nochmals vor. Text wie Tonfall scheinen aus einer andern, längst passierten Welt heraufzudämmern. Die Wirkung ist befremdlich, das weinerliche Pathos nimmt sich aus wie eine Parodie auf weinerliches Pathos; doch es ist die Art von Dichtung, die mich geprägt hat und die vielleicht noch immer irgendwie durchschlägt in dem, was ich schreibe. Anderseits: Wie viele wirklich starke Verse gibt’s in dem langen Poem? Warum stellt sich trotz offenkundiger Ernsthaftigkeit und persönlichem Engagement der Autorin – ihre Stimme bebt beim Lesen, überschlägt sich bisweilen – sogleich der Kitschverdacht ein? Welcher Lyriker heute würde sich noch mit einem Beerensammler im Märchenwald identifizieren? Und was wäre damit gesagt? Dennoch ziehe ich diese abgehobene Art lyrischer Rede dem fahrigen Parlando heutiger Trendpoesie vor. – Der Landregen mit seinen monotonen Grautönen ist abgezogen, die Luft ist dick und schwer wie feuchter Filz, dagegen erhebt sich nun in einzelnen, allmählich wieder häufiger werdenden Spitzen das Vogelgezwitscher. Noch hat das Licht einen diffusen milchigen Schein, der kaum ausreicht für die Konturierung der Schatten. Ich ziehe mich in den Garten … in den Pavillon zurück; übersetze zwei, drei Gedichte für die Anthologie; skizziere die Taufszene für Potocki (stelle mir dabei, als Ort der Episode, die Hauskapelle im kleinen Palazzo Crusch in Sta. Maria vor); muss dann im schwülen Durchzug eingeschlafen sein … Unter vielen Menschen bin ich, zufrieden und ohne Erwartungen, im Zoo. Es ist ein offener Park ohne Gehege und sonstige Einzäunungen, eher ein karger Naturgarten, dominiert von Felsen und Beton oder von Betonfelsen. Doch die Menschen überwiegen, es herrscht ein Kommen und Gehen, ein unaufdringliches Gedränge. In Begleitung all dieser mir unbekannten Menschen treffe ich auf ein hässliches, fast kahles, dreckgraues Pelztier, halb Schwein halb Tapir. Aber es ist ein Löwe, ein noch nicht ganz ausgetragenes Jungtier, das sich aus seiner Mutter herausgearbeitet hat und nun schmal auf mich zuschießt. Ich weiß, ich bin schwer krank. Muss in die Klinik, passiere einen riesigen Tomografen. Man zeigt mir die bunten, da und dort verschatteten Bilder meiner Innereien. Kräftige Farben fügen sich zu einer schönen Komposition, lassen aber eine schwarze Leerstelle und eine große gelbe Insel erkennen. Ich soll sofort operiert werden. Alles verläuft sehr schnell. Ich darf nochmals kurz telefonieren vorm Eingriff, das Handy scheint aber nicht zu funktionieren, doch eine der Sekretärinnen verbindet mich.

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