28. März

Habe heute am Wegrand … am Waldrand einen großen bemoosten Stein freigelegt, ihn freigemacht von Brombeerranken, zähen Krautstengeln und allerlei Totholz, um mir hier einen Sitzplatz einzurichten. Bequem ist das nicht, der flache Stein – könnte auch eine alte Grabplatte sein – ist zu niedrig, aber ich setz mich nun doch für eine Weile hin, vor mir ein unwahrscheinlich harmonisches Landschaftsbild, das auch als Ansichtskarte taugen könnte. Das Bild ist dominiert vom Mont d’Or – »Goldberg« –, dessen ausladende Flanke dem Profil des Mont Ventoux – »Windberg« – in der nördlichen Provence zum Verwechseln ähnlich ist. Da sitze ich nun, überlasse mich dem Blick meiner Augen, sehe zu, wie sich der Berg unter dem milchigen Mittagslicht allmählich in einen qualmenden Trümmerhügel verwandelt und die in der Luft wippenden Sommervögel zu Kampfhelikoptern werden. Das große Summen im Buschwerk hinter mir und über den Feldern und Weiden vor mir klingt plötzlich wie ferner Gefechtslärm. Dass ich hier mitten im Idyll hocke und nicht in einem Ruinenfeld unweit von Homs oder Aleppo, ist eins und … aber was ist das andere? – Mühe mit Potocki – eine Woche nichts als Recherchen (zu Uman, Łancut, Tulczyn, Stendhal, Wittowa usf.), viel gelesen, Bilder und Karten ausgedruckt, dabei beliebig viel Interessantes gefunden; aber wie bring ich das alles in den Roman rein? Es ist zu viel und … aber das Stoffliche darf nicht überquellen, darf nicht die Einbildungskraft bedrängen. Doch die Einbildungskraft als solche bedrängt mich ebenso, ist ebenso unerschöpflich wie der Erzählstoff, den sie bündeln und vorantreiben soll. Am produktivsten wird das Erzählen dann, wenn der angehäufte Stoff abgesunken und teilweise wieder vergessen ist – in der Vagheit der Erinnerung an Gelesenes und Geträumtes verbinden sich Fakten und Fantasien am ehesten zu einer produktiven Schreibbewegung. Was in diesen Tagen nicht der Fall ist. – Befragung syrischer Flüchtlinge in einer TV-Reportage; ein vielleicht fünfunddreißigjähriger Mann mit struppigem Bart ums Gesicht herum sagt: »Ich habe sieben Kinder und eine Decke, meine Frau ist ver… ist vergewaltigt und … und getötet worden.« Und schon wird das Mikrofon mit dem Label von NBC vor den nächsten Mund gehalten. – Krys lädt zur Geburtstagsparty ein. Wir sind zu acht, vier Paare. Krys hat zusammen mit zwei Freundinnen die Wohnung aufgeräumt, überschwänglich gekocht, den Tisch stilvoll dekoriert. Es reicht knapp für das eine und andere Lob, dann brechen gleich die Tratsch- und Problemthemen über all die guten Gaben herein. Eins der Themen, immer aktuell, ist das der sexuellen Belästigung. Über sexuelle Belästigung beklagen sich in unsrer Runde ausschließlich die Frauen. Von den Anfängen im vorpubertären Mädchenalter bis in die unmittelbare Gegenwart wird von sexuellen Übergriffen berichtet. Als Täter werden der Stiefvater, der ältere Bruder, der Musiklehrer, der Seminarassistent, der Verleger, der Autofahrlehrer, der Doktorvater, der Personalchef, der beste Freund des Ehemanns und viele … viele andere genannt. Ich wundere mich über den Eifer, mit dem von den Missbräuchen berichtet wird, der sich aber nie zu echter Empörung steigert. Auf meine Nachfrage hin geben die meisten der betroffenen Frauen (mit einer Ausnahme) freimütig zu, sie hätten den Kontakt mit den Tätern trotz der Vorfälle nicht abgebrochen. Kommentar: So sind nun mal die Männer! So ist nun mal das Leben! »Meine Hüftlinie ist nun mal so gezeichnet, dass die Kerle darauf abfahren. Ändern kann ich’s nicht, und ich hab mich ja auch schon längst daran gewöhnt.« – Die Verwendung von rhetorischen Figuren aller Art, wie sie auch in der Alltagsrede üblich sind, steht keineswegs für den Reichtum, sondern umgekehrt für die Armut der Sprache. Wir brauchen unentwegt Vergleiche und bildhafte Ausdrücke aller Art, weil die Sprache, wörtlich genommen, bei weitem nicht für jeden Gegenstand, jede Befindlichkeit, jeden Einfall, jeden Wunsch, jeden Schmerz den passenden Begriff bereithält. Der Begriff »Baum« hat beliebig viele Entsprechungen in der Wirklichkeit, ebenso der engere Begriff »Apfelbaum« oder, noch enger, »Glockenapfelbaum«. Wenn ich aber einen bestimmten Baum bezeichnen will, auf den ich nicht gleichzeitig zeigen kann, habe ich für ihn kein Wort zur Verfügung und muss mir deshalb mit Umschreibungen behelfen, mit Wörtern und Vergleichen, die den fehlenden Namen ersetzen. Der Ersatz kann aber nie darüber hinwegtäuschen, dass es für jenen einen … jenen gemeinten Baum keinen eigenen und unverwechselbaren Begriff gibt. Anderseits kann man auch hier beobachten, wie produktiv eine Mangelsituation sein kann. Hätte alles seinen eigenen und einmaligen Namen, gäbe es keine Metaphern, keine Metonymien, keine Parallelismen, keine Rhetorik des Als-ob. Ist nicht auch die Poesie eine Errungenschaft, die aus sprachlichen Defiziten erwächst und die diese Defizite in staunenswerten Reichtum ummünzt? – Meine weitläufigen Lektüren stehen in keinem (vernünftigen) Verhältnis zu dem, was mir davon im Gedächtnis bleibt – der ganze Joseph Roth, der ganze Franz Kafka, auch Flaubert, Stendhal, Robert Walser usf. – alles ist, wenn auch noch so gründlich gelesen, schon bald wieder vergessen, schwingt aber gleichsam atmosphärisch nach und bliebt auf unerklärliche Weise virulent. Anderseits ist es so, dass die reduzierte Haltbarkeit des Gelesenen das Lesen selbst, den Akt des Lesens aufwertet. In der unmittelbaren Leseerfahrung wird das Gelesene zum Ereignis, ist so real wie ein Traum. So erschließen sich »mögliche« Welten als wirkliche Erfahrungswelten. – Da! Auch auf diesem Plakat ist die sensationelle Ausstellung zeitgenössischer Kunst aus China angekündigt, sie soll so sensationell sein, dass – so steht es auf dem roten Kleber – sämtliche Führungen bereits ausverkauft und auch keine Einzeltickets mehr zu haben sind. Also werde ich mir nun erst recht ein solches Ticket besorgen und bin im Übrigen bereits unterwegs nach Biel oder Martigny, wo die Besucher angeblich bereits in kilometerlangen Schlangen anstehen. Unterm schmalen Fahrradreifen flitzt die asphaltierte Piste dahin, sie führt durch die streng geometrisierte Anlage des Kulturkantons und verläuft auch in der Ebene – alles hier ist flach – in engen Serpentinen, die wie die Zeilen eines Gedichts nebeneinander herlaufen und die dort, wo der Endreim wartet, in einem scharfen Knick wenden. Die Kurven so eng, dass ich immer wieder – bei jedem weiteren Reim – absteigen muss. In der Vorstadt, die gleichzeitig die Schlussstrophe ist, treffe ich auf einen chinesischen Propagandawagen, ein riesiges aus Holz gezimmertes Gefährt, in dessen Heck man eine Bücherwand aus Mahagoni eingebaut hat. Ich fahre möglichst nah an das Heck heran, um mir einige der im Regal ausliegenden Zeitungen zu greifen. Da ich auf dem Fahrrad kurz aus dem Gleichgewicht gerate und fast schon im Stürzen bin, kann ich nur gerade ›Die Zeit‹ aus dem Stapel ziehen, stelle aber beim Aufblättern fest, dass ausgerechnet der Kulturteil fehlt, in dem ich einen Ausstellungsbericht zu finden hoffte. Außerdem ist es nicht ›Die Zeit‹, sondern die gestrige Ausgabe der NZZ, allerdings ohne die gewohnte Titelfraktur und ohne jegliche Bebilderung, alles randvoll mit Text ausgedruckt. Der Ausstellungsraum liegt tief unter der Erde, man steigt … ich steige auf einer engen, mit pinkfarbenen Konfetti übersäten Betontreppe hinab in eine Waschküche und … oder in einen Bunker, viele Leute stehen bis zu den Knien im Beton, die chinesische Kunst an den Wänden ist »newashno« und »so what«. Dafür gibt es einen kleinen Büchertisch, betreut von Gustav Howeg, der mir beim Vorbeigehn seine bandagierte Hand wie eine Flosse hinhält. Im aufgeweichten Betonboden steckt schräg ein Rollbrett, auf dem lächelnd ein blutiger Kopf sitzt. Ein Mann in chinesischer Armeeuniform versucht das Rollbrett sorgsam an einer Leine aus dem grauen Teig zu ziehen und bückt sich gleichzeitig vor, um dem Kopf auf die Beine zu helfen. Der Kopf gehört – ich bin verwundert – zu einer Frau mittleren Alters mit hellem Teint und rotblondem Kurzhaar; unter ihrem zerknitterten Röckchen (Naturleinen) recken sich jetzt ihre unschönen Beine, zwei stumpfe Stummel voller Krampfadern und Narben. Doch als die Auferstandene bemerkt, dass ich ihr auf die Knie schaue (die ihre Fersen sind), sagt sie: Der Leonardo hat sich ja auch ständig am Rücken gekratzt, wo er seine Metallplatte hatte. Das Publikum, das sich doch wie ich um die raren Tickets gerauft hat, besteht mehrheitlich aus dickleibigen Jugendlichen, die hier, ebenfalls wie ich, im blubbernden Beton auf der Stelle treten. Howeg hebt den triefenden Fuß und wiederholt zischend sein Verdikt: Newashno! So what! – Waldgang bei sich bewölkendem Himmel, der sich weitläufig und gleichgültig wölbt; bin erstaunt, dass aus solch gewaltiger Höhe … dass aus solcher Erhabenheit vereinzelte Tropfen fallen können, auch dass die Einzeltropfen tatsächlich als solche wahrnehmbar werden und nicht bloß als kollektiver Guss, den man vereinfachend »Regen« nennt. – Mitten im Wald galoppiert mir plötzlich ein kleines fahles Pferd mit merkwürdig schlenkernder Hinterhand entgegen, geritten von einer ebenso fahlen Person mit Sturzhelm, Gesichtsschutz, Ganzkörperanzug; und fast gleichzeitig kommt von hinten, mit kurzatmigem Hecheln sich ankündigend, ein Radfahrer herangebraust, den Kopf zwischen die auf und ab wippenden Knie gesenkt – er überholt mich in rasendem Tempo und wirbelt mit seinem Hightec-Mountainbike eine feuchte Wolke von Dreck und Laub auf.

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