28. Oktober

Auf dem Waldweg von Croy her ist das schwarz verrottete Laub leicht überfroren, knarrt unter meinen Schritten wie ein brüchiges Parkett. Als der Weg aus dem Wald ins Feld hinaus führt, steht unversehens (zwar wie noch jedes Mal, aber doch wie neu gebaut) der Mont d’Or im strahlenden Morgenlicht. Der gewaltig hingelagerte Bergrumpf ist mit einer feinen Schicht Neuschnee überpulvert, und wie er so daliegt, erinnert er mich – die Assoziation ist nicht zu vermeiden – an den viel bekannteren Mont Ventoux in der nördlichen Provence. Wer ahmt hier wen nach? Wo ist – in der Natur – das Original? – Zu Jacques Derridas letzten Denk- und Schreibprojekten gehörte eine großangelegte Philosophie des Tiers, genauer – des Tierseins, noch genauer – des Tierwerdens des Menschen und damit auch seiner, des Autors, selbst. Eingespurt hat er dieses Projekt im Sommer 1997 mit einem mehrtägigen Seminar über ›Das autobiographische Tier‹, zu dem er eine illustre Kollegenrunde ins Schloss von Cerisy-la-Salle einberief. Dort hielt er als Hauptreferent einen knapp zehnstündigen Monstervortrag, den er nachfolgend, auf Wunsch des geneigten Publikums, durch eine Improvisation über das Tierthema bei Martin Heidegger ergänzte und damit zu einem vorläufigen Abschluss brachte. Nach diversen Vorabdrucken erschien 2006 ein umfangreiches Textkonvolut, das Derridas Auslassungen postum – zwei Jahre waren seit seinem Tod vergangen – unter dem Titel ›L’animal que donc je suis‹ in Buchform verlässlich und vollständig darbot. Seit kurzem liegen diese Texte, kundig eingedeutscht und ausgiebig kommentiert, auch hierzulande vor. Die übersetzerischen Schwierigkeiten und Defizite, mit denen bei Derrida durchweg zu rechnen ist, manifestieren sich gleich schon in der Titelzeile: ›Das Tier, das ich also bin‹. Der doppelsinnige Gleichklang der französischen Verbform »suis« (bin/folge) lässt sich im Deutschen nicht nachbilden, weshalb denn auch die alternative Lesart – »Das Tier, dem ich also folge« – nicht zum Tragen kommt. Da eben diese Formulierung in Derridas Skripten vielfach wiederholt und variiert wird, muss der Übersetzer an jeder entsprechenden Stelle auf deren Doppelbedeutung verweisen und explizit machen, wie sie zu verstehen ist: Ob es dem Autor-als-Menschen darum geht, sich in seinem Tiersein zu begreifen oder als einen (Menschen), der dem Tier folgt, ohne es zu verfolgen, der’s dem Tier gleichtut, sich dem Tier gewaltlos annähert, um in dessen Nachfolge seinerseits zum Tier zu werden. Zwischensprachliche Vermittlungsprobleme dieser Art gibt es hier zuhauf, selbst – und gerade – Derridas Kernaussagen sind davon betroffen, weil sie mit innersprachlichen, zumeist klanglichen Entsprechungen operieren, die in der Zielsprache wohl erklärt, nicht aber in sie eingebracht werden können. Dazu später mehr. – Vor zwanzig oder mehr Jahren hab ich mit dem Kettenrauchen aufgehört, bin zwei-, dreimal für kurze Zeit rückfällig geworden, fühle und behaupte mich seit langem als Nichtraucher. Nur wenn ich in alten Filmen sehe … wenn ich zusehn muss, mit welcher Lässigkeit und Eleganz ein Humphrey Bogart, ein Michel Piccoli, ein Yves Montand sich die Zigarette ansteckt, sie anraucht, sie zwischen den Fingerspitzen oder im Mundwinkel hält – dann ist dies jedes Mal ein Moment, auf den mein Gaumen, meine Bronchien sofort ansprechen. In solchen Momenten könnte ich gleich wieder zum Raucher werden und würde es wohl auch, wenn ich bloß ein Päckchen Gauloise in Griffnähe hätte oder jemand mir eine Rothändle anböte. Irgendwie, irgendwo bleibt man … bleibe ich meinen Süchten treu – wie meinen Sehnsüchten auch. – Ryszard Kapuściński – weitgereister Reporter, versierter Interviewer und Essayist – gilt nicht nur als einer der namhaftesten polnischen Autoren des 20. Jahrhunderts, er wird auch bereits dem Kanon der Weltliteratur zugeschlagen. Als Publizist ist er damit zu einem Exponenten der Erzählkunst geworden. Was er an vielen, oft gefahrvollen Schauplätzen – in Afrika, Südamerika, der Sowjetunion – als Tagesberichte abgefasst hat, geht damit in den »ewigen Vorrat« großer Prosa ein, und er selbst gewinnt dadurch den Status der Unsterblichkeit. Wie prekär dieser Status sein kann, wie leicht – und wodurch – er zu erschüttern ist, das verdeutlichen die öffentlichen Querelen, die seit Kapuścińskis Tod, 2007, in Polen ausgetragen werden. Der Perlentaucher bringt heute in seiner internationalen Presseschau ein Abstract aus der Warschauer ›Gazeta Wyborcza‹, die dem populären und weithin respektierten Autor vorwirft, zahlreiche seiner Reportagen und Interviews gefälscht beziehungsweise frei erfunden zu haben. Was bedeutet das nun? »Meine bevorzugte Gattung ist die literarische Reportage«, hat Kapuściński einst selbst bestätigt; geschrieben habe er stets »gestützt auf die Erfahrungen langjähriger Reisen durch alle Welt«. Sicherlich ist Kapuściński durch die belegbaren Vorwürfe als professioneller Publizist wie auch als Privatperson nun postum schwer angeschlagen, doch kann er anderseits, finde ich, an literarischer Statur gewinnen. Denn seine Texte sind, unabhängig von ihrer faktografischen Richtigkeit, stilistisch und imaginativ von höchster Qualität; sie mögen gefälscht sein, mögen in Bezug auf seine realen Erfahrungen wie auch auf den zeitgeschichtlichen Moment also falsch sein, und doch haben sie als Narrative ihren eigenen Wahrheitsgehalt. Ich könnte mir vorstellen, dass Kapuścińskis fiktive Gespräche mit korrupten Despoten und Kriegsherren oder mit fanatisierten Freischärlern der Wahrheit (oder wenigstens der Wirklichkeit) näher kommen, als wenn er sie tatsächlich geführt und korrekt aufgezeichnet hätte. Denn hätte er das getan … hätte er tatsächlich mit jenen Leuten gesprochen, wäre er keineswegs in den Besitz der Wahrheit gelangt, vielmehr hätte er lauter Lügen zu hören bekommen … lauter Lügengeschichten, mit denen die schlechte Alltäglichkeit – politische Morde, massenhafte Drangsalierung, Indoktrination, Ausbeutung, selbst Genozid – gerechtfertigt worden wäre. Kapuściński mag seinerseits ein Lügner gewesen sein, doch er hat »literarisch« gelogen, er hat seine Reportagen ja auch als »literarisch« charakterisiert, und nicht nur bei ihm gewinnt die literarische Lüge einen eigenen Wahrheitsgehalt – sie spricht nicht wahr, aber sie macht wahr. In Bezug auf seine Autorschaft und deren multiple Authentizität hat Ryszard Kapuściński in einer späten, selbstkritisch getönten Verlautbarung klärend festgehalten: »Jede Reportage hat viele Autoren, und es verdankt sich nur einer althergebrachten Praxis, dass wir den Text bloß mit einem Namen unterzeichnen. – Der Spur des Tiers – etwa der Seidenraupe, der Ameise, des Pferds, des Igels, der Schlange – ist Jacques Derrida auch in frühern Werken umsichtig und mit bemerkenswertem Erkenntnisgewinn nachgegangen. In seiner jüngsten Schrift nun, die durch seinen Tod zum Vermächtnis geworden ist, skizziert er mit großer Geste den Grundriss einer Tierphilosophie, die nicht bloß »das Tier« oder das Tierische besprechen, es dem Logos unterwerfen soll, die vielmehr von den Tieren her für die Tiere zu sprechen versucht, auf vielerlei Art zu sprechen versucht angesichts der vielen Tierarten, die es – noch vor dem kollektiven begrifflichen »Tier« – neben und mit den Menschen gibt. Statt das Tier als Mangelwesen vom Menschen kategorial abzusetzen und es somit als Nichtmensch zu disqualifizieren, nimmt Derrida – darin Noah folgend – die Tiere (d. h. alle Tiere in ihrer jeweiligen Eigenheit) hinein ins menschliche Dasein, überschreitet also oder verflüssigt jedenfalls die seit alters – von Aristoteles über [bricht ab]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00