29. April

Fünfeinhalb Stunden Zugfahrt mit dem ICE. Alle Plätze in der Runde sind besetzt von jungen adretten Leuten, Männern wie Frauen, die stundenlang hochkonzentriert an ihren Laptops arbeiten, nur hin und wieder einen Handyanruf entgegennehmend; der eine schreibt ein Sitzungsprotokoll ab, ein andrer bearbeitet eine Statistik, die Blondine neben mir studiert und memoriert mit Markierungsstift irgendwelche Lehrtexte; noch ein andrer blättert zwischendurch im neuen Roman von Kehlmann: ›Ruhm‹. – Wenn ich heute, als einer von vielen Passanten, von einem Pizzakurier am Straßenrand angefahren und zu Fall gebracht werde, mir dabei den Schädel aufschlage und die linke Hand breche, wird sich bald jemand über mich beugen mit der völlig deplatzierten, jedoch als politisch korrekt geltenden Frage: »Geht’s Ihnen gut? Sind Sie ok?« Und ich werde, Blut spuckend und mich auf den rechten Ellenbogen stützend, korrekt antworten: »Alles ok!« Erst dann beginnen, falls überhaupt, die Hilfeleistungen. Soviel zur Empathie heutiger Alltagsrhetorik. – Bei mir im Treppenhaus treffe ich heute früh auf einen alten Mann, der sich halb liegend, halb sitzend an das Geländer klammert. Einen Schuh hat er neben sich gestellt: »Kann ich Ihnen helfen?«, frage ich den Unbekannten. Ja, er braucht seinen Stock, nein, er sucht sein Kettchen, ach, er muss aufs Klo usf.; meine Einladung, sich in meiner Wohnung kurz auszuruhen, lehnt er ab, er will nicht stören, er muss weiter, wie er sagt – ein völlig verstörter, schwer dementer Mensch, der aber sehr stilvoll, höflich, leise wirkt, dabei verströmt er diskreten Kampfergeruch. – Bei einer Sonntagsumfrage der NZZ unter hiesigen Literaten werden nicht nur die üblichen Grundsatzfragen gestellt («Warum schreiben Sie eigentlich? Für wen?«), man will auch wissen: »Welches Buch der Weltliteratur hätten Sie auf keinen Fall schreiben wollen?« Mir würde dazu kein Titel einfallen, doch als Autor fühle ich mich endlich mal wieder echt ernst genommen. – Und wieder Schnee: Die zarten (japanischen?) Alleebäume unter meinem Fenster tragen ihr dichtes Blust wie hellrot eingefärbte Wolle (Rosa, Pink, Magenta), am Fuß der schlanken Stämme bilden sich von den herabrieselnden Blütenblättchen unregelmäßige rötliche Kreise, die wie dünne zerschlissene Teppiche im Bodenwind wellen und sich zu immer wieder zu neuen Mustern fügen. – Die Nächte werden merklich kürzer, die Träume seltener, dafür intensiver. Ich treibe in einem unüberschaubaren Menschengewimmel durch eine mir fremde Stadt, habe den Zug nach Ulan Bator verpasst, obwohl eine freundliche verschleierte Frau mich zum Bahnsteig geführt hat. Am Schalter gebe ich meine Sachen und Papiere ab, eröffne ein Postfach, mit der Zahnradbahn fahre ich in ein Hochgebirgstal, habe freie Sicht auf eine antike Ruine und ein frisch renoviertes kleines Kloster mit mächtiger weißer Kirche. Zusammen mit einer (mir unbekannten) Mitreisenden schaue ich in den glühenden Ofen des Tenders, wo unzählige lesbische Paare sich in abstrusen Posen und Verrenkungen vergnügen. Einigermaßen sind wir nun eingerichtet, wollen heute Abend noch ausgehn, jeder von uns, Frau wie Mann, sucht sich an den sonst kahlen Wänden einen Spiegel, um sich »schön« zu machen. Ich habe nur einen miesen Taschenkamm dabei, frage mich, warum und für wen ich meine Haare in Ordnung bringen soll – ob das dem »Willen der Natur« entspreche und … aber schon ist das Feuer aus. Die Bahn stockt. Ich steige aus, sehe mich um, stelle fest, dass ich der einzige Ankömmling bin. Aber wo? – Wundersame, viel zu warme und zu helle Tage, die Luft ist so mild und so leicht, dass ich physisch keinen Unterschied mehr wahrnehme zwischen Innen und außen – als durchwehte sie mich, ohne irgendwo anzustoßen. An Arbeit ist nicht zu denken, ich bin in einem merkwürdigen Schwebezustand, der mich nirgendwo anstoßen, nirgendwo einhalten lässt. Wie schreibt man im luftleeren Raum? Und an wen? – Lese erstmals (in deutscher Übersetzung) ›Eloge du migrant‹ von Adrien Pasquali – es ist das einzige seiner Bücher, das ich in der Originalfassung nicht besitze. Erstklassige Prosa, starker Gesamtaufbau (beginnt mit Kapitel 2, endet mit Kapitel 1), seelische wie körperliche Befindlichkeiten in präziser Aufzeichnung, Emotionen sehr flach gehalten, aber doch nicht gleichgültig. Einziger Vorbehalt: Der Icherzähler, ein Gastarbeiter zwischen Italien und der Schweiz, ist stilistisch und intellektuell auf viel zu hohem Niveau unterwegs, seine Rhetorik würde eher einem Arzt oder Lehrer entsprechen. Pasquali schreibt eine ungemein kompakte, sehr kontrollierte, dennoch gut durchgeatmete Prosa auf einem eigenen Blatt zwischen Nathalie Sarraute und Robert Pinget. – Weiter mit der Korrespondenz zwischen Francis Ponge und Jean Paulhan – Hunderte von Briefen in zwei Bänden, alles sehr kolloquial, mehr Tratsch als Dialog: lauter kurze betriebliche Mitteilungen, wechselseitige Freundschafts- und Loyalitätsbekundungen, Kollegenschelte an Drittpersonen, die üblichen Eitelkeiten (Preise, Ehrenmedaillen, Akademiesitz usf.), aber kaum etwas Relevantes zur Literatur und zur Zeit. Ich vermute, dass die bedrückende Zurückhaltung von Ponge herkommt; denn mit andern Autoren hat Jean Paulhan sehr viel anregender und viel weiter ausholend, auch offener korrespondiert. Im Anschluss an den Briefwechsel lese ich von Francis Ponge ›Pour un Malherbe‹ – einen grafomanischen literarhistorischen Versuch über den Dichter und Dichtungstheoretiker François de Malherbe, skizzenhaft, redundant, unwitzig, unergiebig wie kaum ein anderes Buch von Ponge; erst bei längerem Lesen … erst bei aufkommender Langeweile gewinnt der Text – es sind Hunderte von Seiten – etwas Litaneiartiges, Einnehmendes. Ich stelle mir eine Bühnenlesung vor, bei der verschiedene Stimmen die endlosen Wiederholungen und Varianten gleichsam musikalisch, zumindest passagenweise also simultan vortragen. Der sperrige, völlig untiefe Text müsste, um irgendwie zu bestehen, ins Komische oder Parodistische gewendet werden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00