29. Januar

Frühe Tagwache; es hat kalt durchgeregnet über Nacht, und es regnet weiter. Kompakter Landregen – für mich das schönste Geräusch überhaupt, dieses dichte strähnige Rauschen, das sich aus lauter Unregelmäßigkeiten … aus lauter Zufälligkeiten zusammenbraut – ungleich große Tropfen, unterschiedliche Fallgeschwindigkeiten, unvorhersehbare Verschmelzung der Tropfen in der Luft, unkoordinierte Flugbahnen, ungleichzeitiges Aufprallen und Zerplatzen auf ungleichem Grund: Asphalt, Glas, Gras, Blech, Ziegel, Holz, Beton. Der Regen … das Regnen ist so etwas wie eine Symphonie (Einklang, Bündelung) von Unvereinbarem oder … oder ist, umgekehrt, eine Verdichtung von minimalen, momentanen, rein zufälligen Klangereignissen, deren einziges Regulativ die Schwerkraft ist. Der Vergleich mit der Dusche macht’s deutlich – durch die Brause wird der Tropfenfall reguliert, gleichgerichtet, vereinheitlicht zu einem monotonen Rieseln. Dusche, Regen und – dagegen – Schnee! Schnee stiebt, weht, schwebt, sinkt, fällt, trifft auf, bleibt aber unhörbar, ist reiner Augenschein. – Träume sind nicht zum Verstehen da, also auch nicht zum Interpretieren; der Traum ist eigentlich nur als mein Traum von Interesse, nur was ich ihm abgewinne, kann sinnstiftend sein. Mir jedenfalls geht es nicht um die Bedeutung meiner Träume, um das, was allenfalls hinter ihnen verborgen ist, was mit ihnen und durch sie gemeint sein könnte. Gemeint von wem? Man kann jedem beliebigen Traum eine Bedeutung beilegen … eine Bedeutung zusprechen, doch auch eine solche, eine nachgetragene Bedeutung bleibt beliebig. Klar kann einzig der Sinn sein, der als Traum zum Tragen kommt. Der Traum, so würde ich versuchsweise sagen, hat keine Bedeutung, er ist der Sinn; zum Beispiel dieser: Ich befinde mich in der unaufgeräumten Turmwohnung einer mir unbekannten jungen Frau. Da steht sie, den behäbigen hellen Leib an die Tapetenwand gelehnt, das wilde Schwarzhaar auf den nackten Schultern, und schweigt. Der niedrige, unmöblierte Raum ist voll von Gegenständen, die im Halbdunkel schwach zu glimmen scheinen. Bettzeug, Kissen, abgelegte Kleider, Kartonschachteln, Odradeks, Hüte, Stricksachen, Strumpfkugeln, zwei, drei aufgespannte Regenschirme. Im Stockwerk darüber geht jemand mit schweren Schritten auf und ab, ich höre schlurfende Geräusche, vermute, es ist der Mann der Frau … der Mann der Frau, die sich in diesem Augenblick aus ihrer Starre löst und aus dem Gerümpel ihr jüngst erschienenes Buch zieht. Wortlos reicht sie mir den dicken, eher kleinformatigen Band, eine weiche Broschur, angenehm in der Hand liegend. Ich blättere, beginne zu lesen, sehe auf eine weite Hügellandschaft hinaus, in deren Mittelgrund sich eine rote Backsteinburg in klarem funktionalem Design erhebt. Jetzt erklimmen zwei jugendliche Männer mit eleganten Kletterbewegungen die Burgtürme, um sich, kaum haben sie die Zinnen erreicht, einer nach dem andern in steifer Haltung – Hände an den Hosennähten – mit den Füßen voran in die Tiefe zu stürzen. Im Burghof bleiben sie wie eingewurzelt stehn, ein regloses Doppelmonster, ein doppelgängerisches Idol. Ein wenig möchte ich mit der Autorin nun doch noch über das Buch reden, sie sitzt mir an der Breitseite eines langen Tischs gegenüber, eine schmale Frau mit rotblondem Kurzhaar, vielleicht einunddreißig, vielleicht dreiundvierzig Jahre alt, sie beugt sich, auf ihre rosigen Fäustchen gestützt, so weit zu mir herüber, dass ihre heiße Wange mein Gesicht streift. Ich warne sie inständig vor dem Mann, der hinter ihr (von ihr verdeckt) schattenhaft am Fenster steht und ruhig auf ihr Jawort wartet. – Vor der »Schande, verstanden zu werden«, hat sich Stéphane Mallarmé zeitlebens gefürchtet, und er hat sie einigermaßen erfolgreich von sich abgewendet. Dennoch wollte er zum zeitgenössischen Literaturbetrieb gehören, kandidierte offiziell (und auch hier erfolgreich) als »Dichterfürst«. Eine Dichterexistenz wie die von Mallarmé ist in unsern dürftigeren Zeiten undenkbar … denkbar allenfalls als Lachnummer auf dem Abschlussfest am Literaturinstitut. Literaturinstitute sind heute die Hauptlieferanten von (Autoren von) saisonaler belletristischer Makulatur, die den Großteil dessen ausmacht, was an Prosa und Poesie in den Betrieb eingespeist wird. Ich vermute, dass es diese Art von Literatur in zehn Jahren nur noch in elektronischer Form geben wird, leicht zu lesen, leicht zu löschen, und dass dann das Buch wieder der starken Literatur gehört, Luxus- und Gebrauchsobjekt in einem, elitär und exklusiv, sei’s als billige Broschur, sei’s als bibliophiler Druck. Nur werde ich dann nicht mehr mit von der Partie sein. Aber ich kann nicht anders, als auf das Buch hin zu schreiben, und übrigens kann ich auch nicht anders lesen als im Buch – blätternd, vorausblätternd, zurückblätternd, am Rand und zwischen den Zeilen notierend, einzelne Sätze unterstreichend. Mein tägliches … mein nächtliches Fest ist die Lektüre. Ich habe diesen Winter wieder einmal (und wieder ganz neu) alles von Franz Kafka gelesen, fast alles von Joseph Roth, Robert Musils nachgelassene Entwürfe, die kleinere Prosa von Stendhal, ›Bouvard et Pécuchet‹ und die Reisetexte von Gustave Flaubert, die Aphoristik von Joseph Joubert – da kommt, egal wie desolat die dargestellte Gegenständlichkeit und die vorgeführten Kunstfiguren auch sein mögen, so etwas wie Glück auf … so etwas wie Dankbarkeit für solch einzigartiges Gelingen. Ich muss da als schreibender Nachfahr gar nicht erst hinwollen, es genügt, all dies Überlieferte als Gabe anzunehmen; abzugelten ist es nicht. – (Die Gabe ist heftiger als das Geschenk, sie erlaubt keinen Gegenzug; ich kann mich von ihr nicht entlasten. Die Gabe ist Provokation und als solche nicht abzuweisen – sie muss ausgehalten werden.)

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