29. Juli

Verbinden? Mich! Mit wem? Wieder kommt die Kommunikation nicht zustande. Die Operation drängt. Man schläfert mich ein, ich hebe sofort ab, bleibe dann in der Schwebe zwischen Aufstieg und Fall, bis ich erwache. Mehrere Ärzte, angeführt von einem schwarzen Mann mittleren Alters mit auffallend feinem Nasenschnitt und langfingrigen Händen, informieren mich über den Verlauf und das Ergebnis der Operation. Ich empfinde keinerlei Schmerzen, habe jedoch … spüre jedoch die tiefen, weitläufigen, stark blutenden Wunden, die mit Gaze abgedeckt sind und in rascher Folge neu verbunden werden müssen. Eigentlich hatte man erwartet, sagt der Oberarzt, der königsblaue Fleck auf dem tomografischen Bild sei eine Granate aus dem Balkankrieg oder, weniger wahrscheinlich, ein Onkozytom. Tatsächlich habe man einen Löwenembryo in meinem Unterbauch gefunden. Ich müsse mich nun tüchtig von dem Intrus erholen, mich auch bewusstseinsmäßig von ihm befreien. Bevor ich zur Rehabilitation abgeholt werde, führt man mich – da habt ihr euren außerordentlichen Fall! – in einem kleinen Auditorium als Versuchstier vor. Der enge, steil ansteigende Raum ist besetzt von halbwüchsigen kichernden Kindern. Vor der Schiebetür, die in einen Garten mit tropischer Trümmerflora hinausführt, stehen Ärzte, Studentinnen, Krankenwärter, Besucher plaudernd beisammen. Auf einem Servierboy wird nun – die Kamera schwenkt ins Auditorium zurück – der kleine kahle Löwe hereingerollt. Wie ein archäologischer Sensationsfund ist er, von einer Glashaube geschützt, auf ein flaches weißes Kissen gebettet. Unter dem Applaus des jugendlichen Publikums schiebt man mich auf dem Seziertisch unter die Halogenleuchte, um mir erneut die Verbände zu wechseln. Eine große schwere Schwester – sie sieht dem Leben auffallend ähnlich –, betupft meine Wunden. Ich kann ruhig sein. – Wolfgang Hildesheimers ›Marbot‹, einst als Meisterwerk deutscher Prosa gefeiert, heute (so gut wie) vergessen, interessiert mich neuerdings im Zusammenhang mit meinem Potockiprojekt und der Frage, wie historische Figuren literarisch vergegenwärtigt werden können. Zwar nimmt Hildesheimer für sich in Anspruch, mit Marbot eine historisch glaubwürdige Gestalt zu entwerfen, während ich eine reale Figur der Geschichte zur Kunstfigur verfremde. Das Ergebnis dürfte in beiden Fällen ähnlich sein. Doch Hildesheimers Roman, 1981 bei Suhrkamp erschienen, erweist sich beim Wiederlesen als unergiebig, gerät mir zur Enttäuschung insofern, als ich mich gern an den Autor und an ein langes Gespräch erinnere, das wir einst, noch während der Entstehung des Romans, in Chur geführt hatten. Hildesheimer suchte damals nach einer realen Nebenfigur zum fiktiven Marbot … nach einem kundigen Begleiter für seinen Helden bei der Überquerung der Alpen nach Italien. Ich empfahl ihm, als alternative Rollenbesetzung, zwei russische Zeitgenossen – den Schriftsteller Nikolaj Gogol und den Philosophen und Musiktheoretiker Alexandre Biéloselski-Biéloserski, mit denen der englische Dandy und Muttersohn von Chur aus südwärts hätte aufbrechen können. Hildesheimer begann damals gleich zu spekulieren, fragte nach Details, suchte nach Anknüpfungs- und Vernetzungspunkten. Doch nichts davon ist in sein Buch eingegangen.

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