29. Juni

Ob Frau oder Mann, beide können die Täter- wie die Opferrolle übernehmen; beide stehen, wenn sie »ich« sagen, für ein »man«, das als neutrales oder als kollektives Subjekt das sexuelle Geschehen beherrscht. Dass »die Frau« im nachstehenden Gedicht beim Lieben »den Mann« zumindest gleichsam zu Tode bringt, ist keineswegs bloß eine »bürgerliche« Untugend, sondern erinnert an die archaische Nähe von Eros und Thanatos, evoziert auch die angeblich elementare Angst des Mannes vor dem verschlingenden weiblichen Schoß und, andererseits, das Begehren der männerverschlingenden Hetäre. Wenn der männliche Autor das lyrische Ich weiblich imaginiert, liest sich dies zum Beispiel wie folgt: Das dauert mir aaaaaimmer zu lange
aaaaabis du einen hoch hast
aaaaaund dir dein Ding steht
aaaaaso lang wie es
aaaaagewachsen ist und ich
aaaaaes mit dem Mund so weit habe,
aaaaadass es so lang bleibt, wie es
aaaaanötig ist, damit ich
aaaaaden Prügel mir unten rein tun kann
aaaaafür internen Gebrauch
aaaaaund er mich nach Kräften bewegt,
aaaaakräftiges Fleisch, Stück von dir,
aaaaawie im Volkslied,
aaaaaOnaniergestell,
aaaaawenn du allein bist, und jetzt
aaaaafür mich Fleischkatapult,
aaaaader mir die Eingeweide belebt und
aaaaalustig in mir tätig ist,
aaaaasolange ich will,
aaaaasolange du kannst,
aaaaabis dir nichts anderes
aaaaamehr einfällt als mit Gebrüll
aaaaaauf mir zu sterben. – Dass pornografische Poesie generell zur Gleichförmigkeit tendiert, hat einerseits mit der relativen Beschränktheit des einschlägigen Vokabulars zu tun, andererseits mit der meist klischeehaften Metaphorik, die für sexuelle Vorgänge eingesetzt wird. Zu beobachten und nachzuweisen ist diese Beschränktheit anhand zahlloser lyrischer Anthologien, die der Liebesthematik allgemein oder sexueller Obszönität im Besonderen gewidmet sind. Während diese nur wenige, durchweg klar benennbare Gesten und Körperteile zum Gegenstand hat, gehört jene – nicht anders als andere große Themen wie Glück, Leid, Verlust, Tod – zu den Erfahrungen, über die man eigentlich nicht adäquat reden kann, über die man aber, statt zu schweigen, um so mehr spricht und dichtet. Aus diesem paradoxalen Grund gibt es unvergleichlich viel mehr erotische als pornografische Gedichte. Das Liebesgedicht kann als Landschaftsgedicht, als Ideengedicht, als Dinggedicht, als Bildgedicht inszeniert werden, das Sexgedicht hingegen bleibt auf die enge Optik des Voyeurismus beschränkt, die den Körper im Wesentlichen auf seine Geschlechtlichkeit reduziert, ihn jedenfalls nur selten – so etwa in der althergebrachten Gedichtform des Blasons, wie er im Hohen Lied vorgeformt ist – in seiner Integralität zur Erscheinung bringt. – Meine Blödigkeit, gefördert durch die Hitze, die nachlässige Ernährung, das ständig überzogene Arbeitspensum, tendiert mehr und mehr zur Verblödung; die Müdigkeit ist so furchtbar und banal, dass sie mich sogar am Schlafen hindert. Dazu allgemein: Blödigkeit, Bequemlichkeit, Rendite sind die unlauteren Beweggründe für das Bedürfnis nach Fusion, von dem Politik wie Kultur und Ökonomie seit mindestens einem Jahrhundert geprägt sind. Die Weltkriege gehören ebenso dazu wie das Gesamtkunstwerk, das noch heute die künstlerischen Eintöpfe dominiert: Theater-Tanz-Film-Video in einem, schillernde Performance statt Werk, Kunst als Supplement (am Bau, im Büro, in der Werbung usf.), Multikulturalität, Ökumene, ungefilterte Informationsschwemme, Englisch als Allerweltsidiom; Firmenfusionen, Arrondierung von Geschäfts- beziehungsweise Produktionsbereichen, globale Anpassung von pädagogischen, technischen, juristischen Standards. Generelle Devise quantitativer Anpassung nach oben – alles soll immer noch größer, dabei immer noch gleichartiger werden. Die internationale Politik ist weiterhin angelegt auf Globalisierung, auf weltweite angebliche Demokratisierung, auf die Verallgemeinerung, mithin Nivellierung der Menschenrechte; die EU als transnationale Begradigungsinstanz; Kreolisierung, Mestizisierung, Assimilierung und damit Unifizierung der Bevölkerungen usf. – das alles vereinfacht formell (nicht aber naturgemäß) das Miteinander. Als »normal« gilt doch, mit der Natur in Übereinstimmung zu leben, also natürlich – »bio« ist das Zauberwort – daherzukommen und sich zu verhalten. Das tun allerdings Tiere überzeugender als der Mensch. Der Mensch als geistiges Wesen sollte doch eigentlich den natürlichen Drang haben, über das natürlich Gegebene hinauszugreifen … nicht um es sich untertan zu machen, auch nicht, um sich ihm zu unterwerfen, vielmehr um ihm gegenüber eine mögliche Welt zu etablieren, die ihm allein gehört … der er allein angehört als der Andere, als ein Anderes der Natur. Von daher sind unnatürliche Phänomene wie Perversion, Askese, Skandal, Wahnsinn und sonstige Exzentrizitäten dem Menschen auf natürlichste Weise eigen. Fjodor Dostojewskijs vielbändiges Erzählwerk kann dazu, wie kein anderes, als Lehr- und Übungsbuch dienen. – Qualvolle Tage in feuchter Hitze bei blödsinnigem Nichtstun und drückender Müdigkeit. In der rätselhaften, zwischen Banalität und Genialität ständig oszillierenden Person des polnischen Grafen Jan Potocki, über den ich seit Jahren Material sammle, erkenne ich mit zunehmender Deutlichkeit einen Zeit- und Problemgenossen in der Möglichkeitsform, von dem aus und zu dem hin ich ein Buch schreiben möchte, das – obwohl es in allen Einzelheiten dokumentarisch beglaubigt wäre – als eine fiktive Autobiografie gelten könnte.

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