29. Oktober

Nasse Kälte jetzt, erfrischend und bedrückend zugleich. Beim Waldgang heute früh kommt mir als einziger Passant ein Jäger entgegen, dick vermummt in eine Tarnmontur, die Flinte im Anschlag; er duckt sich, als er mich sieht, sofort ins Dickicht, geht vom Weg ab, verschwindet im Gehölz, mit dem er all die grauen und braunen Farben teilt. Etwas später höre ich aus der Tiefe des Walds einen Schuss, einen einzigen, der aber hier zwischen den Bäumen viel Widerhall hat, denke mir dabei, das könnte ein Tod für mich sein: In diesem schwarzen Wald von einer verirrten Jägerkugel getroffen zu werden und noch zu sehen, wie Diana sich über mich beugt. – (Unterstrichen bei Clarice Lispector:) »Ich muss die Dinge sagen, und die Dinge sind nicht leicht.« – »Übrigens ist jedes Wort ein Gegenstand, ist objektiv.« – »Ich hab nichts verstanden, aber ich habe alles gefühlt.« – »Was taugt der Sinn? Der Sinn bin ich.« – »Schreiben: Reine Pulsion, auch ohne Thema.« – »Die wesentliche Verstocktheit, die es braucht, um gewisse Dinge zu sagen.« – »Sehen und vergessen, um nicht vom Wissen niedergeschmettert zu werden.« – »Sterben ist, was das ›Paradies‹ ist.« – »Man hat niemals etwas erfunden außerhalb des Sterbens.« – »Jeder bewegt sich naturgemäß hin zur Neuerfindung der Kopie, die absolut original ist, wenn man sich nur richtig liebt.« – Das alles sind eher Fragen als Gewissheiten, es sind Sätze – im rauen Aggregatzustand von Gedanken – aus verschiedenen Gelegenheitsarbeiten Clarice Lispectors, Sätze ohne jeden philosophischen oder aphoristischen Anspruch, Sätze, wie sie dieser Autorin immer wieder unterlaufen … immer wieder gelingen und die unverstellt für sie sprechen, ohne dass sie sie dazu anhält. Keine Lebensweisheiten, bloß Lebenserfahrungen. – Bin gegen sechs Uhr aufgewacht, geweckt vom Klappern und Schlagen meines angelehnten Fensterladens – über Nacht ist starker Wind aufgekommen, der nun richtungslos durch die steile Gasse taumelt und (ich verfolge, noch im Pyjama, das Spektakel von der Terrasse aus) das letzte Laub von den Bäumen räumt. Im milchigen Licht der Straßenlaterne seh ich die hell vom Dunkel sich abhebenden Blätter in unstetem Flug, ein Schwarm ohne Schwarmformation, ein allseitiges Wimmeln, ein Segeln schräg nach unten, schräg nach oben, eine kollektive Tanzbewegung in der stürmisch aufgerührten Luft, vom Kunstlicht kontrastreich ausgeleuchtet und sich abhebend – ich bemerke es erst jetzt, da sich die Augen auch an die Finsternis gewöhnt haben – vom tiefschwarzen Himmel, in dem noch immer unverrückt die Gestirne stecken. Die auf und ab und hin und her trudelnden Blätter bilden den bewegten Vordergrund zu den tief oben fixierten Sternbildern. Nach einer Minute der Versunkenheit in jenen Höhen schließe ich die Terrassentür, der Fußboden ist bis zum Bett hin mit zerknülltem Laub übersät, auf meinem Kopfkissen liegt ein großes fünffingriges Ahornblatt – sieht aus wie ein blutiger Handabdruck. Ich schlafe gleich wieder ein. Stehe erst nach acht Uhr auf, lese beim Frühstück … nehme beim Durchblättern der Tageszeitungen all die vielen Neuigkeiten zur Kenntnis, die ich schon gestern online erfahren habe – jüngste oder gar letzte Nachrichten vermag die Presse nicht mehr zu liefern, bestenfalls liefert sie einen ersten Kommentar dazu. Doch den hab ich mir gewöhnlich schon selbst zurechtgelegt. Statt Zeitungen zu lesen, könnte ich, denke ich, beim Frühstück auch eine Fremdsprache lernen, Georgisch für Geschäftsleute oder Iwrit in dreizehn Tagen, da käme ich wohl eher auf die Rechnung. – In der Post, aus Paris, ein Kartenbrief von Eleonore Frey; diesmal schickt sie mir (ihre Karten sind Legion und Legende zugleich) ›Le chien‹ von Alberto Giacometti, dessen anthrazitene Bronze der Fotograf so ausgeleuchtet hat, dass das Tier nun aussieht, als hätte man es mit Gold bestäubt. Derweil ich E. F’s winzige, auf enge Zeilen gesetzte Bleistiftschrift entziffere (wozu ich mir den Text ungefähr zehn Zentimeter vors linke Aug halten muss), denke ich, dass so Gedichte gelesen werden sollten – mit Nahsicht auf das, was Schwarz auf Weiß dasteht, eine langsame, geduldige, suchende, fragende, rückkommende Lektüre, die auch Unleserliches, mithin Unverständliches mit einbezieht und gelten lässt. – [Fortsetzung Derrida:] Von Aristoteles über Descartes und Kant bis hin zu Lacan und Levinas – befestigte Grenzlinie zwischen Menschenwelt und Tierreich, die bald als Schutzwall, bald als Abgrund das eine vom andern trennt. Derrida versucht diese Linie ausfransen zu lassen, sie zu verfalten und zu vervielfachen, sie also in die Fläche auszudehnen und solcherart einen Interferenzbezirk zwischen Tier- und Menschenwelt zu eröffnen. Nicht mehr durch Ausschluss, sondern umgekehrt durch Einbezug soll das Fremde (wenn nicht gar das Böse), das »das Tier« in der vom Menschen unterworfenen Natur ist beziehungsweise geworden ist, seinen eigenen Status erhalten; dadurch nämlich, dass es in seiner Fremdheit und Befremdlichkeit als das Andere des Menschen wahr-, ernstgenommen wird – ein Anspruch, den Derrida beispielsweise gegen Emmanuel Levinas durchsetzen muss, welcher seine Lehre von der Würde und Unantastbarkeit des Andern auf den Menschen beschränkt, der sich durch sein »Antlitz« uneinholbar vom »Tier« abhebe. Derrida auferlegt sich einen herkulischen philosophischen Kraftakt, wenn er »das Tier« und vollends die Tiere je einzeln – die Zikade wie den Elefanten – als Mangelwesen gegenüber weithin üblichen skeptischen Vorbehalten rehabilitieren will mit dem schlichten Argument, Tiere wie Menschen könnten sich gattungsintern ebenso unähnlich und einander ebenso fremd sein wie Mensch und Tier, was doch darauf schließen lasse, dass diese Fremdheit durch Gradunterschiede, und nicht durch Wesensunterschiede bestimmt sei. Doch Mängel und Makel sind die durchweg negativen Unterscheidungskriterien, mit denen der Mensch das Tier als minderwertig abwehrt und ausschließt, selbst dort, wo er es zur Nutzung domestiziert. Das Tier wird gemeinhin nicht »als solches« erkannt, es wird verkannt im Negativbezug zum Menschen, verkannt als etwas … als eine Sache, die kein Selbst- und Weltbewusstsein hat, keine Seele, keine Sprache, keine Scham, keinen Traum, kein Mitleid, etwas, das keine Kleidung, keinen Spiegel, nicht einmal das Sterben kennt. Aus Defiziten ergibt sich die Definition. Und aus der Definition folgt die Nutzanwendung. Diese erweist sich in aller Regel als gewalthafte Vernutzung (euphemistisch ausgedrückt: als »Verwertung«) – ein Faktum, das Derrida mehrfach anführt und durch lange Listen von Übergriffen exemplifiziert, wie sie bei Opferungen, auf der Jagd, bei der Züchtung oder Dressur, bei Tiertransporten und Tierversuchen, bei der industriellen Tierhaltung und -schlachtung gang und gäbe sind. Während Jahrhunderten habe man das »beispiellose Ausmaß dieser Unterwerfung des Tiers« nicht zur Kenntnis genommen, da all dies »im Dienst eines bestimmten menschlichen Seins und mutmaßlichen Wohlseins des Menschen« geschah.

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