30. April

Der April scheint unmittelbar in den Hochsommer zu kippen. Die luftige Hitze hält bis in den frühen Abend an. Zu Fuß steige ich zur Platte hinab, wo ich im Seminar für Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft zu einem Podium (mit Lesung und Diskussion) eingeladen bin. Komme an und stelle fest, dass ich um eine Stunde zu früh bin. Was oder wer hat mich da getäuscht? Ich mich selbst! Passiert mir neuerdings des öftern. Also lege ich noch einen Rundgang durch das Universitätsviertel ein, rekapituliere die Thesen, die ich vortragen möchte, habe im Übrigen noch immer nicht entschieden, was ich vor dem hochkarätigen Publikum – Universitätskollegen, Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker, Künstler – vorlesen werde: ›Alephbet‹? ›Gewerweißt‹? Oder die einhundert Vierzeiler von ›Augenschein‹? Der Lesung geht – bei vollem Haus – ein Gespräch mit Marco Baschera voraus, der sich nach den Anfängen meines Sprachbewusstseins erkundigt. Ich berichte von meinen frühsten alltagssprachlichen Beobachtungen – über die zu meiner Schulzeit noch deutlich wahrnehmbaren (heute völlig verschliffenen) dialektalen Unterschiede zwischen den verschiedenen Basler Stadtteilen, zwischen Stadt und Land; über die Dreiländerecke am Basler Rheinhafen, wo nicht nur Frankreich und Deutschland, sondern eben auch das Französische und das Hochdeutsche mit meinem alemannischen Dialekt zusammentrafen, wo ich aber auch erstmals – als Primarschüler – realisierte, dass es noch mehr Sprachen gibt: Ich notierte mir die exotischen Namen der riesigen Lastschiffe, die im Hafen anlegten, und stellte mir vor, dass jeder dieser Namen für eine mir unverständliche Sprache stand. Lauter Zauberworte! Was für ein Reichtum! Nach der Diskussion, in der es außerdem um meine literarischen Anfänge, meine übersetzerische Arbeit, meine aktuelle Position als Autor geht, lese ich dann doch das unveröffentlichte Langgedicht ›Gewerweißt‹ vor, das nochmals Anlass zu einem produktiven Publikumsgespräch wird. – Ich hole Krys am Bahnhof in Yverdon zum Weekend ab, wir kaufen in der Altstadt ein, verplaudern eine Stunde im Freiluftcafé am Pestalozziplatz, fahren dann via Mathod nach Romainmôtier und bemühen uns, für die kommenden Tage kein Programm zu machen – nur Gehen, Lesen, Vorlesen, Bach (Lamenti), Beethoven (Quartette). Am Sonntag zur Bachpassion in der Abteikirche. Die Kirche ist voll besetzt, vor Beginn der Aufführung wird geklatscht. Meine Verstimmung nimmt zu bei der fehlerhaften, offenbar unzureichend geprobten Darbietung, die wir denn auch vorzeitig verlassen. Folgt ein später Brunch im Garten, eine Flasche Weiß aus der Domäne von Arnex, eine Tomme aux herbes aus der Region, luftgetrocknete Tomaten, gegrillte Auberginen, frisches Mohnbrot. Nomadisches Gespräch ohne Strich und Faden, zur Zeit gibt es kaum gemeinsame Interessen, keine gemeinsamen Pläne. Abends lese ich Krys zwei, drei Dutzend Seiten aus den ›Parallelgeschichten‹ von Péter Nádas vor. Ich bin mit dem mehr als tausendseitigen Band noch lange nicht durch, weiß auch gar nicht, ob ich da wirklich hindurch will, hindurch muss. Der Lesegewinn bleibt eher gering, die historische Folie des Texts – im Wesentlichen die politische Geschichte Zentraleuropas im 20. Jahrhundert – dient lediglich als Hintergrundpanorama für die verkappte sexuelle Autobiografie des Autors. Das Feuilleton hat den zeitgeschichtlichen Hintergrund mehrheitlich in den Vordergrund gerückt, um nur keinen Pornografieverdacht aufkommen zu lassen. Doch tatsächlich handelt es sich bei diesen gekonnt inszenierten ›Parallelgeschichten‹ um rein skatologische Prosa mit höchstem Pornokoeffizienten. Warum sollte das nicht klar ausgesprochen werden? Krys findet die seitenlangen Beschreibungen von Geschlechtsorganen und Geschlechtsakten ziemlich abstrus, für mich sind es Meisterstücke der Beschreibungskunst, die als solche von weit größerem Interesse sind als das jeweils Beschriebene. Aber es gibt hier doch auch viele Ausrutscher ins Triviale, Peinliche, Klischeehafte, und bald einmal wird man … werden wir der verdreckten Arschbacken, der runzligen Vorhäute, der ewig erigierten Schwänze, der überlaufenden Fotzen, der stinkenden Unterhosen wie auch der nekrophilen Verschattungen müde. Nádas scheint hier ein krasses literarisches Defizit wettmachen zu wollen. Denn tatsächlich finden in der sogenannten schönen Literatur gerade die natürlichsten physiologischen Vorgänge – essen, defäkieren, koitieren, onanieren, furzen usf. – seit jeher nur wenig Beachtung, selbst bei Autoren mit ausgeprägtem pornographischem Interesse (Flaubert, Dostojewskij, Maupassant, Schnitzler, Platonow, Nabokov usf.) werden diese elementaren Funktionen nirgendwo explizit beschrieben. Dass sich Péter Nádas diesem Exerzitium unterwirft und es zu großer epischer Entfaltung bringt, ist als Leistung anzuerkennen. Aber als Kunst? Krys mag darüber nicht mehr diskutieren. – Ich werde sicherlich nie eine Autobiografie, nie Memoiren schreiben, dazu fehlt mir die Dreistigkeit der Lüge und fehlt auch das Interesse an mir selbst als Protagonist oder Erzähler. Aber ich kann mich mal versuchsweise hinsetzen, mir einen Tag Zeit geben, um durchgängig alles zu notieren, was mir einfällt, was ich assoziiere, woran ich mich spontan erinnere, was ich hier und jetzt beobachte – lauter Bewusstseins- und Erfahrungsfragmente, ein privates Tohuwabohu, ein bunter Haufen von Unzusammengehörigem, das aber eben doch einen Haufen bildet und einzig von mir zusammengehalten wird. Allerdings wozu? – Kann einer (wie ich) unbegründet Gewissensbisse haben? – Wer eigentlich sollte sich einst um meine Asche kümmern? Ich möchte diese Kümmernis niemandem zumuten, wissend, dass ich sie niemandem zumuten kann. Gibt es denn kein Einäscherungsverfahren, bei dem keine Asche übrigbleibt? – Ich soll mit Krys, die grade von einer Weltreise zurückkehrt, eine große Villa am Stadtrand beziehen; es ist das Haus von James Haefely, ein gigantischer, in sich vielfach verschachtelter Bau in Hanglage, ziemlich abgelegen, entsprechend schwer zugänglich. Wir erreichen die Villa zu Fuß über einen Saumpfad, sie steht wie eine Festung im Gelände. Bin dann aber erstaunt (als wir sie endlich erreichen) über die perfekt ausgebaute Infrastruktur – Garagen, Parkplätze, Sprinkel- und Alarmanlagen, Swimmingpool usf. Wir begehen das Haus, schreiten Raum um Raum ab, alles ist sehr imponierend, ohne jeden Geschmack, sehr pompös – es gibt da reihenweise Pokale, Diplome, Gedenktafeln, teure Schnäpse, klotzige Möbel, riesige Betten, lange Tische. Auf einem Globus zeigt mir Krys ihre Reiseroute um die Welt. Wir sollten nun die Räume zwischen uns aufteilen, ich will nicht mit ihr zusammenwohnen. Vor der Tür drängeln bereits die Obdachlosen, entlaufene Jugendliche, bedrohliche Vermummte begehren Einlass »zum Pennen«. Ich ziehe den Türvorhang zu, aber der Ansturm wird umso stärker, bald auch gewalthaft. Man hört Zerstörungslärm, bald liegen Rauch und Gestank in der Luft. Wir fliehen aus dem Haus durch den sorgfältig gepflegten weitläufigen Garten, in dem ein paar luxuriöse, offenbar bereits verlassene Wochenendhäuser verstreut sind. Aus der Ferne beobachten wir, wie die Villa in Flammen aufgeht und fast gleichzeitig die Sprinkleranlage mit dem Löschen beginnt. Wir verlassen das Terrain auf einem steil nach oben führenden Fußweg, der mit einem Schild versehen ist, das pfeilförmig nach zwei entgegengesetzten Richtungen weist. Welcher von den beiden Ortsnamen in welche Richtung gehört, ist nicht auszumachen. Also bleiben wir da und lassen uns am Fuß des Wegweisers nieder. »Diesmal«, sagt Krys, »hoffentlich für immer.« – Beim Wiederlesen Kafkas notiert: Das Sinnliche wie das Böse bleibt angesiedelt im Leib, ist identisch mit ihm und wird in striktem Gegenzug zum Geist gedacht: Soma mit Logos im fatalen Widerstreit. Dass der Leib jenes Wesentliche ist, das Mensch und Tier gleichermaßen haben, das hat auch Kafka begriffen, zumindest geahnt, denn im Leib, im Geschlecht, wo er das Böse verortet wusste, residierte sein permanenter Schmerz – das Leben; die Fähigkeit, »mit dem Bauch« zu denken und hin und wieder einen »klaren schönen Gedankengang« zu bewerkstelligen, bleibt, wie es in Kafkas Entwurf zum ›Bericht eines Affen an eine Akademie‹ heißt, den Tieren vorbehalten. Friedrich Nietzsche, dem der sinnlich wahrnehmende Leib weniger eine Bedrohung denn ein Aggregat des Erkennens war, hat den Schmerz – das Ungemach, am Leben zu sein – der dunklen Tierwelt zugeordnet, hat ihn namhaft gemacht als seinen Hund: »Ich habe meinem Schmerz einen Namen gegeben und rufe ihn ›Hund‹ – er ist ebenso treu, ebenso zudringlich und schamlos, ebenso unterhaltend, ebenso klug wie jeder andre Hund – und ich kann ihn anherrschen und meine bösen Launen an ihm auslassen: wie es andere mit ihren Hunden, Dienern und Frauen machen.« – »Was werde ich durch mein Tier werden, mein Erbstück?«, fragt sich der Icherzähler in einem nachgelassenen Notat Franz Kafkas zu ›Eine Kreuzung‹. Hier darf freilich gelacht werden über den Bastard, der Lamm und Katze zugleich ist und »fast auch noch ein Hund« sein will, doch eigentlich möchte der überforderte Besitzer das Tier weghaben, er wünscht ihm »das Messer des Fleischers«, vermag es dann aber – so sehr ist’s Teil von ihm – der »Erlösung« doch nicht auszuliefern. Statt dessen wird er selbst, zur namenlosen Existenz geschrumpft und bürokratisch rubriziert unterm Kürzel K., im Roman ›Der Process‹ solcher Erlösung teilhaftig. Zuvor allerdings muss ihm die Einsicht dämmern, dass das Tier nicht als ein Anderes ihm entgegengesetzt, auf ihn angesetzt, dass es vielmehr und schon immer mit ihm identisch war. So vollendet K. seine Menschwerdung – indem er in sich den Hund erkennt und sich als solchen akzeptiert; und wenn Kafka seinen Protagonisten an dieser äußersten Stelle, mit der folgerichtig auch der Text abbricht, dem erlösenden Messer ausliefert, lässt er noch einmal den »Herrn« über den »Hund«, den Geist über den Leib triumphieren: »… an K.’s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K. wie nahe vor seinem Gesicht die Herren Wange an Wange aneinandergelehnt die Entscheidung beobachteten. ›Wie ein Hund!‹ sagte er, es war, als wollte die Scham ihn überleben.« – »Er« steht hier, wohlgemerkt, für K.; der »Hund« vertritt gleichermaßen das Ich des Helden und die Person des Autors, während die »Herren«, als Repräsentanten des üblichen, zivilisatorisch beglaubigten Macht-, Nützlichkeits- und Vernunftdenkens, durchaus der menschlichen Norm und Normalität entsprechen. – Weiter – mühsam – mit John Potocki; wachsende Zweifel, ob ich die Vorgaben zum Roman im Roman durchhalten kann: die Legasthenie; die Tarnung der Frau als Mann; die Parallelführung der Lebensgeschichte und des Computerspiels usf. – Noch eine Überlegung zu Bedeutung/Sinn – zur Sinnbildung in der Erzählliteratur gehört auf Leserseite unter anderm die physische Ausstattung (Körperlichkeit) der Protagonisten, die in vielen Fällen nur skizzenhaft beschrieben sind – ihr physischer Auftritt kommt nur dann zustande, wenn ihn der Leser eigenständig imaginiert. Eigenständig? Durch assoziative Konkretisierung der im Text vorgegebenen allgemeinen Hinweise (wie groß, gebückt, blond, breitschultrig, beleibt, gebrechlich usf.). Wie unterschiedlich diese Ausgestaltung sein kann und – also – wie offen die meisten literarischen Personenbeschreibungen gehalten sind, ist besonders eindrücklich durch Romanverfilmungen belegt. Wie sehen Bouvard und Pécuchet aus? Fürst Myschkin? Der mordende Student Rodion Raskolnikow? Franz Kafkas Mann vor dem Gesetz? Barabas? Musils Agathe? Platonows Flo? Becketts Malone? Der Namenlose? Gar nicht so sehr anders ist es mit Gott, der sicherlich gewaltigsten literarischen Gestalt überhaupt – nur dass in diesem Fall die figurative Einbildungskraft kaum je über den thronenden bärtigen Greis hinausgegangen ist: Nicht Gott hat den Menschen nach seinem Bild geschaffen, sondern umgekehrt – der Mensch hat sich damit begnügt, Gott und die Götter in Menschengestalt auftreten zu lassen. Nie war der jüdische, der christliche, der muslimische Gott auch nur als Frau denkbar, geschweige denn als Berg, als Baum oder – als etwas ganz anderes noch. – Urs Widmer, populärer Schweizer Literat, ist um ein paar Jahre älter als ich, wir haben gleichzeitig das Basler Realgymnasium besucht, sind uns aber nur tangential begegnet, sei’s im Pausenhof, sei’s in der Straßenbahn. Seit Jahrzehnten leben wir, unweit voneinander, in Zürich, haben uns in der langen Zeit aber lediglich dreimal – zufällig – getroffen. Jede unsrer Begegnungen war eine Peinlichkeit, an jede kann ich mich genau erinnern. Jede verlief ungefähr gleich. Widmers erster Satz nach jeweils prosaischer Begrüssung lautete beim ersten Mal wie folgt: »Ich hab dich damals herzlich nicht gemocht – immer hast du auf dem Schulweg in der Straßenbahn Kant gelesen, und wir unterhielten uns über die Mädchen vom Barfüsserplatz.« Zweite Begegnung (fünfzehn Jahre danach): »Ich hab dich damals herzlich nicht gemocht – immer hast du in der Straßenbahn Nietzsche gelesen, und wir unterhielten uns über Fußball und Autos.« Schließlich (vor kurzem): »Ich hab dich damals nicht besonders gemocht – immer hast du auf dem Schulweg Flaubert oder Maupassant gelesen, und wir redeten über Klamotten, Frisuren und die Pille.« Die Erinnerung des Kollegen ist insofern wohl zutreffend, als ich die lange Straßenbahnfahrt zur Schule gern zum Lesen nutzte, meist stehend im Gedränge, mit der einen Hand mich irgendwo festhaltend, mit der andern das Buch mir nah vors Gesicht haltend; doch über meine damaligen Lektüren hat sich Widmer ein völlig falsches Bild gemacht – ich las in jenen frühen Zeiten noch keinen Kant, viel lieber hielt ich mich bei Josefine Mutzenbecher auf, bei Max Scheler, bei Pauline Réage. – Ich habe mir heute nochmals meine Übersetzung von Edmond Jabès’ ›Bericht/Récit‹ vorgenommen, um sie nach Durchsicht an die Komponistin Sarah Nemtsov weiterzuleiten, die eine Vertonung des Prosagedichts plant. Gleichzeitig ruft Antoine Beuger an, beginnt ungefragt vom nämlichen Text zu reden, woraus sich ein gutes, naturgemäß spekulatives Gespräch über produktive Synchronizitäten ergibt! – Keine Lust mehr auf Potocki und seine Welt, die dritte Überarbeitung des Romans macht mich ächzen, vertieft meine Zweifel. Zum Vergleich (zum Trost?) lese ich Hildesheimer, Kronauer, Modiano, Nádas, Handke und stelle fest – das alles ist noch zweifelhafter als meins. Um Vorbildliches zu lesen, müsste ich wohl viel weiter zurückgreifen. Also weitermachen. – Noch ein dramatisch orchestrierter Apriltag! Gleißendes Licht, schwarze Wolkenbänke, hopsende Böen, kurzfristiges Schneegestöber – Flocken- und Blütenflug zugleich. – Bin immer wieder beeindruckt von Romain Gary, der als gestandener und erfolgreicher Unterhaltungsbelletrist ein bemerkenswert scharfer Denker ist, geistesgegenwärtig, erinnerungsstark, vielseitig informiert und geprüft; ein großer Ironiker, Zyniker, Selbstdarsteller, verschattet von unheilbarer Melancholie. Garys zahlreiche Interviews übertreffen die meisten seiner Erzähltexte an Witz und Prägnanz. Auf die Frage, wo er leben möchte, antwortet er: »Überall gleichzeitig und in allen drin, in einer Million Leben.« – »Ich war mir selbst stets ein Anderer.« – »Wahr ist, dass ich der ältesten proteischen Versuchung des Menschen – der Versuchung, mehrere zu sein – zutiefst ausgesetzt war.« – »Wie sehr kann doch ein Schriftsteller zum Gefangenen der ›Fresse‹ werden, ›die man ihm verpasst hat‹, wie Gombrowicz so schön sagte. Einer ›Fresse‹, die weder mit seinem Werk, noch mit ihm selbst das Geringste zu schaffen hat.« Das alles sind für diesen Autor gute Gründe zum Schreiben.

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